Glücksfall
Leben.
Seit dem Tag, an dem er mit dem Müllsack voller Geldscheine aufgekreuzt war, habe ich ihn nicht mehr gesehen, aber wir haben einmal miteinander telefoniert. Er erzählte, er habe sich mit Bronagh und Blake getroffen und ihnen so viel Geld gegeben, dass sie aus ihrer finanziellen Misere rauskommen konnten.
Bronagh und ich haben uns nicht wieder angenähert. Ich glaube, wir wissen beide, dass wir nicht wieder befreundet sein können – es ist einfach zu viel geschehen. Aber es tut gut zu wissen, dass mit ihr und Blake alles in Ordnung ist.
Docker ist regelmäßig in den Nachrichten und kämpft im Namen der Unterdrückten, wo immer er sie aufspürt. Sein neuestes Steckenpferd ist das Thema Abholzen des Regenwalds im Amazonasgebiet, was in meinen Augen eine ziemlich abgedroschene Geschichte ist. Ich vermute, er findet keine neuen Projekte und dreht deshalb eine Wiederholungsrunde.
Von Harry Gilliam habe ich nichts mehr gehört, und so kann es meinetwegen auch bleiben.
Maurice McNice macht munter weiter.
Es klingelte an meiner Tür. Neue Gäste.
Ich machte auf, vor der Tür stand Bruno Devlin in Begleitung zweier junger Herren.
»Helen«, sagte er mit ernster Miene, nahm meine Hände und küsste mich auf die Wange.
In den letzten sechs Monaten hatte Bruno seinen Stil einer radikalen Erneuerung unterzogen. Kein Neonazi-Look mehr. Jetzt arbeitete er an einer Kreuzung von Wiedersehen mit Brideshead und James Joyce: das Haar ordentlich ge kämmt und mit Mittelscheitel, Tweedhosen, Hemd und Kra watte und V-Pullover, langer dunkler Mantel, in dessen Tasche ein uraltes braunes Buch steckte. (Er hatte es in einem Basar für zehn Cent gekauft, und manchmal warf er sich auf eine Couch, kreuzte die Füße in den Lederschuhen und gab vor, darin zu lesen.) Er trug eine runde Brille mit Fensterglas und einen weichen Wollschal.
Mascara benutzte er immer noch.
Er stellte mich seinen beiden Freunden vor: »Master Robin Peabody und Master Zak Pollock.«
Feierlich schüttelten mir die beiden Jungen, deren Aufzug mit dem von Bruno fast identisch war, die Hand.
»Darf ich euch Tee anbieten?«, fragte ich.
»Danke, aber nein, danke«, sagte Master Pollock. »Wir wollen Ihnen nicht die Zeit stehlen. Wir sind sehr erfreut über die Gelegenheit, uns einmal Ihre Wohnung anzusehen. Bruno sagt, sie sei außerordentlich hübsch.«
»Bitte, meine Herren«, sagte ich. »Seht euch gerne um.«
Und das taten sie. Sie schienen etwas überrascht, dass die Wohnung so klein war, würdigten aber mein Bett, meine Pfauenmuster-Vorhänge und meine Farbskala.
»Sie haben einen exquisiten Geschmack, Miss Walsh«, sagte einer der Klone.
»Habe ich euch doch gesagt«, sagte Bruno erfreut und klang plötzlich wie der vierzehnjährige Junge, der er war. »Habe ich euch nicht erzählt, wie toll sie ist? Ich meine, wie vortrefflich .«
»Wirklich, sehr ansprechend«, pflichtete einer der Klone ihm bei.
»Dies hier ist ein exzellentes Bild«, sagte der andere Klon, der vor einem meiner Pferde-Ölbilder stand. »Ausgezeichnete Pinselführung. Die Erhabenheit des Tieres ist auf profunde Weise eingefangen.«
»Großartig!«, sagte ich und klatschte in die Hände, was das internationale Zeichen für »Macht euch vom Acker!« ist. Ich hatte genug von den drei Phrasendreschern. »Danke, dass ihr vorbeigekommen seid. Ich freue mich jetzt schon auf unsere nächste Begegnung.«
Ich schob sie zur Tür, und bevor ich sie draußen hatte, sagte Bruno leise zu mir: »Wenn du mal bei Dad einziehst, kann ich dann hier wohnen?«
»Wir werden sehen.« Bella hatte sich auch schon dafür angemeldet, und sie mochte ich lieber.
Als die Jungen die Treppe runter verschwanden, tauchten bereits meine nächsten Besucher auf: Bella, Iona und Vonnie. Sie waren gekommen, um meinen Weihnachtsbaum zu schmücken. Wie ein Überfallkommando machten sie sich an die Arbeit und verteilten mit rosa Glitzerzeug besprühte Kiefernzapfen, handbemalte Papierengel, silberfarbene Tonsterne, die sie in einem Töpferkurs gemacht hatten, und Lichterketten über den Baum. Als sie fertig waren und meinen Baum schöner herausgeputzt hatten, als ich es je könnte, auch wenn ich hundert Leben hätte, überredete ich sie zu Muffins, aber sie blieben nicht lange. Grenzen. Wir alle hatten das mit den Grenzen jetzt begriffen.
Und dann kam der letzte Besucher an diesem Abend, er brachte zwei Pizzen und einen Becher Eis. Er stellte die Sachen in die Küche und sagte: »Ich habe eine Überraschung
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