Glückskind (German Edition)
dann vielleicht nicken und sagen: »Wenn sie die Wahrheit erfahren will, dann wird sie eines Tages zu Ihnen kommen.« Er würde vielleicht an einem Tisch sitzen und seinen Blick über dessen Platte gleiten lassen, als suche er dort die Worte zusammen. Dann würde er Hans erneut anschauen und sagen: »Dafür, dass Sie keine Wahl hatten, haben Sie sich für das denkbar Beste entschieden.«
Aber vielleicht ist das nur Hans’ Wunschdenken. Vielleicht würde Doktor Sadeghi etwas völlig anderes sagen. Hans beobachtet den Arzt. Wann immer ihre Blicke sich treffen, lächelt Doktor Sadeghi ihn an, wie man einen Freund anlächelt. Ohne Hintergedanken, ohne dunkle Ecken in den Augen. Vielleicht hat er nichts mehr zu sagen, weil genau das eingetroffen ist, was er angekündigt hat. Doktor Sadeghi erscheint ihm wie ein Orakel, das nur spricht, wenn es wirklich notwendig ist. Und Frau Sadeghi mit ihrer strahlenden Freundlichkeit, die alle Menschen in ihrer Umgebung mit einer einzigen unbeschwerten Geste zusammenbringen kann, ist die Hohepriesterin des Orakels. Aber vielleicht ist es auch eher so, dass sie unterschiedliche Formen gefunden haben, demselben Gott zu dienen. Und welcher Gott wäre das, denkt Hans. Er müsste ja sterblich sein, um so viel zu verstehen von uns Menschen.
Aber heute sind keine Orakelsprüche notwendig. Heute geht es darum, den Übergang vom einen zum anderen zu feiern, vom Gefängnis zur Freiheit, vom Prozess zum Urteil, von der ständigen Wachsamkeit, in der er lebte, zum sorglosen Vertrauen.
Nach dem Essen ziehen sie wieder in Hans’ Wohnung um, lassen Musik aus seinem alten Radio laufen und Frau Tarsi tanzt sogar mit ihrem Mann einen Tango. Herr Tarsi hat seine Mühe, denn das steife Bein macht nicht das, was er will. Aber die gute Absicht zählt, und deshalb spenden ihm die anderen begeisterten Applaus. Hans trinkt Bier, bis er betrunken ist und nicht mehr viel mitbekommt. Nach und nach verabschieden sich die Gäste. Als Erste geht Haydee, die Jaavid zu Bett bringen muss. Uli bleibt noch ein Weilchen, aber ohne seine Familie wirkt er verloren. Eine Viertelstunde später geht auch er. Die Sadeghis verabschieden sich ausführlich, sie beherrschen die Kunst, bis zum letzten Moment dazubleiben und nicht schon in Gedanken vorauszueilen. Die Tarsis gehen kurze Zeit danach.
Am Ende ist nur noch Herr Wenzel da. Auch Herr Wenzel ist betrunken. Gemeinsam sitzen er und Hans in der Küche und trinken einen Tee, den Frau Tarsi ihnen zubereitet hat, bevor sie sich mit einem Kuss auf jede Stirn verabschiedete.
Mit schwerer Gebärde eröffnet Herr Wenzel das Gespräch. Er sagt: »Hans, ich wollte dir noch danken, dass du mich nicht mit hineingezogen hast. Danke!« Er hebt sein Teeglas, Hans hebt das seine, sie stoßen an und trinken.
Nach einer Weile sagt Hans: »Ich wusste ja, dass du so’n korrekter Schisserbist.«
Herr Wenzel lässt die Kinnlade fallen. Dann brüllt er vor Lachen los, Hans stimmt ein. Sie stoßen wieder mit ihren Teetassen an.
Nach einer Weile sagt Herr Wenzel: »Hans, da ist eine Sache, über die müssen wir reden.«
»Schieß los, Herr Wenzel!«, sagt Hans.
Herr Wenzel fährt sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Puhl«, macht er. »Das ist nicht leicht für mich. In meinem Alter! Stell dir das mal vor! So ein großer Schritt!«
Hans ist verwirrt. Er sagt: »Hast du schon losgeschossen oder noch nicht?«
»Noch nicht, Hans, kommt gleich, muss nur laden.« Er holt tief Luft. Dann sagt er mit betont förmlicher Aussprache: »Ich habe beschlossen, den Laden aufzugeben, wenn du willst, und endlich das zu machen, was ich mich nie getraut habe und immer tun wollte, nämlich: auf Reisen gehen. Wenn du willst!«
Hans versteht nicht. »Wie bitte?«
Herr Wenzel holt tief Luft. Er ruft: »Na, wenn du den Laden weiterführen willst, Hans! Was denn sonst?«
Hans schaut ihn verdutzt an. »Was?«, fragt er, als hätte er sich verhört.
Herr Wenzel verdreht die Augen. Er holt neuen Anlauf. Er sagt: »Willst du nun oder nicht?«
»Den Laden?«
»Den Laden!«
»Einfach so?«
»Einfach so. Ich überschreibe dir das ganze gottverdammte Geschäft. Ich nehme mein Erspartes und mache mich aus dem Staub. Ich will versuchen, alles auszugeben. Wird mir wohl nicht mehr gelingen, hab einfach zu lange gewartet. Aber ...«, er hebt einen Zeigefinger, er sagt: »Ich schreibe dir Postkarten!«
Hans überlegt. Einer geregelten Arbeit nachgehen. Jeden Morgen früh aufstehen, der Ansturm zwischen
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