Glückskind (German Edition)
weil er das Versprechen, das er Veronika Kelber gegeben hat, nicht länger halten konnte, zum einen, weil es ihm um das Wohl des Kindes ging, und zum anderen, weil er laut eigener Aussage nicht mit ansehen wollte, wie Chiaras Mutter unschuldig wegen Mordes verurteilt würde, beschließt der Ermittlungsrichter, ein Verfahren gegen Hans anzustrengen wegen Falschaussage. Der Staatsanwalt ist damit einverstanden, er wird sich auf die Aussage von Herrn Lindner berufen, der den Inhaftierten wiedererkannt hat als einen der Mieter, die er zum Fall ›Marie M.‹ befragt hat. Veronika Kelber wird freigesprochen und aus der Untersuchungshaft entlassen, die Nebenklage von Leo Kelber als gegenstandslos erachtet. Die Tarsis haben Glück. Ihnen wird kein Verfahren angehängt. Entweder Herr Lindner erinnert sich nicht mehr daran, wie Frau Tarsi ihm mit Chiara Kelber im Arm die Tür öffnete und ihn dreist anlog, als sie sagte, sie wisse von nichts. Oder er denkt sich seinen Teil und sagt lieber nichts.
In den Medien wird der Fall ›Hans D.‹ hochgespielt. Es gibt eine Reihe von Theorien, die alle den Kern der Angelegenheit verfehlen. Als herauskommt, dass Hans D. Hartz-IV-Empfänger ist, gibt es eine sinnlose Debatte über Hartz-IV-Empfänger, die nichts als hitzige Gemüter erzeugt.
Vor Gericht kommt Herrn Balcis große Stunde. Er erzählt von Hans D.s Verwandlung vom ungepflegten Nichtsnutz zum normalen Menschen. Auf diese Weise erringen die Behörden einen kleinen Sieg, denn nun wissen sie wenigstens, dass der unbekannte Obdachlose mit dem Baby im Arm tatsächlich Hans D. gewesen ist. Aber das hilft ihnen in der Sache nicht weiter. Herr Lindner muss in den Zeugenstand. Er bestätigt sein Gespräch mit dem Angeklagten an jenem Tag, als die Polizei die Mülltonnen vor dessen Wohnhaus durchsuchte. Aber er sagt außerdem aus, ihm sei aufgefallen, wie sehr Chiara Kelber sich zu dem Angeklagten hingezogen fühlte, als dieser sie ihrem leiblichen Vater zurückbrachte. Dies und die Tatsache, dass Chiara nach ihrem Verschwinden nachweislich in einer besseren körperlichen Verfassung war als davor, stimmt das Gericht milde. Der Nebenklage von Leo Kelber wegen Kindesentführung wird nicht stattgegeben, da offenbar die Mutter selbst dem Angeklagten ihr Kind in Obhut gegeben hat, auch wenn sie dies leugnet. Weil es überhaupt keine Indizien für ein Verbrechen gibt, verhängt das Gericht am Ende des Prozesses nur eine Geldstrafe in sozialverträglicher Höhe.
Drei Monate nach seiner Festnahme kehrt Hans nach Hause zurück. Es hat geschneit und die Temperatur ist den ganzen Tag unter null Grad geblieben. Bei seiner Ankunft wird er von Herrn Wenzel, den Tarsis, von Haydee und ihrer Familie und von den Sadeghis empfangen. Frau Tarsi, die noch Hans’ Wohnungsschlüssel hatte, hat dies genutzt, um alles schön herzurichten, und dann haben sie gemeinsam gewartet. Als Hans zur Tür hereingekommen ist, haben sie geklatscht und ihn der Reihe nach umarmt. Hans hat abgenommen, sein Gesicht sieht ganz schmal aus. Das liegt nicht am Essen im Gefängnis. Es war zwar nicht schmackhaft, aber genießbar, und es gab genug für jeden. Grund war eher der viele Stress. Jetzt sieht Hans entspannt und glücklich aus. Er hatte nicht damit gerechnet, von so vielen freundlichen Menschen empfangen zu werden. Zum Essen gehen sie nach nebenan zu den Tarsis. Herr Tarsi hat Khorescht-e Fessendschan zubereitet, gemahlene Walnüsse mit Lammfleischwürfeln, Granatapfelsirup und Gewürzen, dazu Duftreis. Außerdem gibt es roten Shiraz-Wein aus Südafrika und kaltes Bier aus der Region.
Den ganzen Abend feiern sie Hans’ Rückkehr. Hans muss erzählen, wie es im Gefängnis war. Er sagt: »Es war gar nicht so schlimm, wie man sich das vorstellt.« Er zuckt mit den Schultern. Er sagt: »Aber ich bin ja auch mehr oder weniger freiwillig hineingegangen.« Hans würde gerne mit Doktor Sadeghi sprechen, er würde ihm gerne sagen, dass sein Dilemma sich unter ganz anderen Umständen in Gang gesetzt hat und nun seinen Weg in die Zukunft nimmt. Er würde sagen: »Aber es gibt einige Unterschiede: Chiara wird ihre echten Eltern kennen, wenn sie damit beginnt, sich zu fragen, was denn nicht stimmt. Wenn sie eines Tages über Informationen zum Fall ›Marie M.‹ stolpert. Wenn sie sich fragt, warum ihre Eltern so verfeindet sind. Warum sie und ihre Geschwister nicht bei ihrer Mutter leben wie alle Kinder getrennter Eltern. Und mich wird sie nicht kennen.« Herr Sadeghi würde
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