Glückskind (German Edition)
Chiara zu holen. Frau Tarsi hilft ihm. Sie sucht nach einem Beutel, findet die Rolle mit den grünen Mülltüten, die Hans gekauft hat, sie nimmt eine und packt Chiaras Kleider, ihre Spielsachen, ihre Windeln, ihr Milchpulver, ihre Trinkflaschen und ihre Schnuller ein. Sie läuft hin und her, sie weiß genau, wo sich alles befindet. Hans schaut ihr zu, er kann ihr nicht helfen und sie erwartet es nicht von ihm. Als Frau Tarsi fertig ist, gehen sie los. Hans trägt Chiara offen auf dem Arm, er muss sie nicht mehr verstecken. Sie fahren mit dem Fahrstuhl hinunter. Im Kellergeschoss begegnen ihnen ein paar Menschen, einige schauen ihnen nach, andere beachten sie nicht. Herr Tarsi setzt sich ans Steuer, Frau Tarsi neben ihn, Hans nimmt mit Chiara im Fond Platz. Dann fahren sie durch die Tiefgarage, die Rampe hinauf. Als sie auf der Straße ankommen, steht dort Herr Balci und schaut sie an. Herr Tarsi grüßt mit Handzeichen, aber Herr Balci hat nur Augen für Hans und Chiara. Dann sind sie vorbeigefahren und der Hausverwalter bleibt verwirrt auf dem Bürgersteig stehen.
Leo Kelber wohnt nicht weit entfernt. Mit dem Auto sind es zehn Minuten. Sie müssen über den Fluss, sie nehmen die Ringstraße, dann biegen sie nach rechts ab und wieder nach rechts. Chiaras Vater wohnt im dritten Stock eines Altbaus. Sie läuten. Sie warten. Plötzlich ertönt aus der Gegensprechanlage dieselbe Stimme, die sie am Telefon gehört haben: »Ja?«
Wieder stehen sie da und wissen nicht, was sie sagen sollen. Aber Herr Tarsi hat das Heft in die Hand genommen. Er sagt: »Wir sind gekommen, Ihnen etwas Wichtiges zurückzugeben, etwas, was Sie seit zwei Wochen suchen.«
Die Tür springt auf. Über eine breite Holztreppe steigen sie nach oben. Dort steht ein Mann, sie kennen ihn aus dem Fernsehen, er steht da und hinter ihm steht eine Frau. Sie trägt ein Kind auf dem Arm. Am linken Bein des Mannes steht ein kleiner Junge und schaut ihnen neugierig entgegen. Er ist fünf Jahre alt, das Mädchen auf dem Arm der unbekannten Frau ist drei Jahre alt, auch das wissen sie aus dem Fernsehen. Der Mann starrt sie mit offenem Mund an, als er seine Tochter erkennt. Er kann sich nicht rühren wegen des kleinen Jungen, der sich an ihm festhält.
Die Holztreppe knarrt mit jeder Stufe, die sie erklimmen. Dann sind sie oben. Chiara schaut ihren Vater an. Leo Kelber schaut sie mit großen Augen an, die Frau im Hintergrund hält sich die Hand vor den Mund. Hans reicht Leo Kelber seine jüngste Tochter. Er streckt die Arme aus und empfängt sein Kind. Chiara lässt es geschehen. Dann dreht sie sich nach Hans um, streckt ihre Arme aus und beginnt zu weinen. Leo Kelber drückt seine Tochter an sich. Er hat die Augen geschlossen, er öffnet sie wieder, er schaut Hans und die Tarsis neugierig an. Er sagt: »Kommen Sie bitte herein.«
Sie betreten die Wohnung. Man sieht, dass Leo Kelber einen Umzug hinter sich hat. Überall stehen Kisten herum, alles wirkt provisorisch, es riecht nach frischer Wandfarbe. Chiara weint immer noch. Leo Kelber bleibt unschlüssig stehen. Dann drückt er Hans das weinende Kind in den Arm. Chiara schmiegt sich an Hans. Sie hört auf zu weinen. Leo Kelber steht vor Hans und schaut ihn an, als verstünde er gar nichts. Er sagt: »Was haben Sie mit meiner Tochter gemacht?«
Ehe Hans antworten kann, wendet Chiara sich ihrem Vater zu und streckt die Arme nach ihm aus. Leo Kelber nimmt sie entgegen. Chiara umklammert ihn mit ihren Armen. Leo Kelber lächelt, aber im nächsten Augenblick lässt Chiara ihn los und streckt die Arme nach Hans aus.
»Nehmen Sie sie«, sagt Leo Kelber.
Hans nimmt sie.
So geht das ein paar Male hin und her, bis Hans entscheidet, dass er sie nicht mehr nehmen wird. Chiara fängt wieder an zu weinen, Hans wendet sich ab, er hockt sich hin und sagt zu dem kleinen Jungen: »Hallo. Wie heißt du?«
»Er heißt Frido«, sagt Leo Kelber. »Und jetzt will ich wissen, was zum Teufel los ist? Wo hat meine Tochter die ganze Zeit gesteckt?« Hans erhebt sich. Chiara ist jetzt still geworden, die Frau mit dem Mädchen auf dem Arm hat ihr einen Schnuller in den Mund geschoben. Jetzt schaut Chiara abwechselnd Hans und ihren Vater an. Hans atmet tief durch. Er sagt: »Vorletzten Montag...«
»Der Tag, an dem Chiara verschwand«, unterbricht Leo Kelber ihn. Hans nickt. Er sagt: »Vorletzten Montag brachte ich meinen Müll hinunter und fand dort eine Frau mit einem Baby auf dem Arm. Die Frau weinte. Ich fragte sie, was los sei,
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