Glückskinder – Warum manche lebenslang Chancen suchen - und andere sie täglich nutzen
Ihr Adrenalinspiegel steigt. Sie können nur schweigen. Kalter Schweiß an den Händen, dicker Kloß im Hals und rot und heiß brennen die Wangen. Wer hat die richtige Antwort? Der Lehrer, immer der Lehrer. Was lernen wir daraus? Der Lehrer ist eine Institution. Nun sind wir konditioniert. Wir wissen, dass Institutionen immer Recht haben.
Nicht, dass wir uns falsch verstehen: Organisationen, Traditionen, langjährige Erfahrungen sind ein geistiges Korsett. Und ein Korsett stützt. Es dient dazu, den Alltag zu meistern. Wer sich jeden Morgen überlegt, welche Jogging-Schuhe er anzieht, welche Strecke er wie lange in welchem Tempo wohl läuft, der wird nie losrennen. Wer ohne langes Nachdenken einem Laufritual folgt, das er von anderen übernommen hat, der schafft das spielend. Vor der Herausforderung Ultramarathon lohnt es sich aber offenbar durchaus, den Autopiloten zu deaktivieren und Kurs und Gangwahl selbst in die Hand zu nehmen.
»Das kannst du nicht, das darfst du nicht, das ist nichts für dich!« Ein Kind hört bis zu seiner Volljährigkeit vermutlich über 100 000 Mal diese Gebote. Wenn es später ein erfülltes Leben haben will, hört es irgendwann mal weg.
Außergewöhnliche Blickwinkel oder Schlupflöcher zu finden, ist im Lehrplan nicht vorgesehen.
Erst vor kurzem habe ich ein weiteres Studium mit Master Business Administration Executive abgeschlossen. So ganz ohne Frustrationen gelang mir das allerdings nicht. Zwar ist der MBA recht praxisorientiert aufgebaut. Doch in Planspielen schnitten ich oder mein Team häufig als Gruppenschlechteste ab. Konnte das wahr sein? Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, aber in den Planspielen ging es um Unternehmenssituationen, die ich vielfach schon erlebt und mit großem Erfolg gemeistert hatte. Schließlich entdeckte ich jedoch den Schlüssel meines akademischen Problems: Die Universitäten und Hochschulen zielen mit ihren praktischen Übungen darauf ab, Regeln zu vermitteln. Außergewöhnliche Blickwinkel oder Schlupflöcher zu |172| finden, ist im Lehrplan nicht vorgesehen. Als Unternehmer hatte ich jedoch immer mit dem blanken Gegenteil meine Erfolge gefeiert: Ich habe die Dinge so gemacht, wie sie funktionieren, nicht so, wie sie in den Regeln vorgeschrieben waren. Wie man es tut, ist dann uninteressant, wenn Sie genau wissen, wie Sie es tun wollen.
Die Welt steht plötzlich Kopf
München, 1910: ein mächtiger Eichenschreibtisch, ein kräftiger Stuhl mit dickem Polster, dunkler Dielenboden. Die Türe knirscht, ein Mann mit schwerer Jacke betritt den Raum. Steifer Kragen, üppige Samtkrawatte. Die Hände ragen aus schneeweißen Leinenärmeln mit edlen Manschettenknöpfen, sie umfassen einen Malkasten, dessen Rost sich mit matten grünen, roten, blauen Klecksen mischt. Tack, tack. Plötzlich bleiben die schwarzen Lederschuhe wie angewurzelt stehen. Gebannt starrt das Augenpaar des Mannes auf das Schauspiel, das sich dort hinten in der Ecke abspielt. Stunde der Dämmerung, durch das Fenster fließt rauschendes Gold. Es sammelt sich – pulsierend, wirbelnd, vibrierend, in allen Farben schillernd – auf einem Stück Leinwand. Zu sehen ist: nichts. Jedenfalls nichts Herkömmliches, nichts Gegenständliches. Stadt, Land, Fluss – alles fehlt und doch ist plötzlich viel mehr als die ewige Staffage aller Malerei vorhanden. Das Bild brennt, es strahlt, es glüht. Später wird der Maler, es ist Wassily Kandinsky, über diesen magischen Moment seines Lebens, ja der Kunstgeschichte, schreiben:
»Ich wusste jetzt genau, dass der Gegenstand meinen Bildern schadet.«
Des Rätsels Lösung war ganz einfach. Kandinsky hatte irgendwann ein Gemälde an die Wand gestellt. Als er es an jenem Abend plötzlich neu entdeckte, stand es, stand seine Welt buchstäblich Kopf. Alles Herkömmliche war getilgt, der Maler sah reine Form, reine Farbe. Die abstrakte Malerei war erfunden – weil ein Genie im wahrsten Sinn des Wortes etwas ver-rückt hatte.
Wer Durchbrüche erlebt, bricht mit der Sicherheit.
Wer Durchbrüche erlebt, bricht mit der Sicherheit. Dazu braucht es Wahnsinn – und deswegen fehlt uns dafür so oft der Mut. Wir |173| limitieren unsere Möglichkeiten, wir unterschätzen unsere geistige Potenz. Denken ist so kreativ, so explosiv, so anarchisch wie die Energie des Lichts, die Kandinskys Leinwand durchglühte. Doch meistens denken wir nicht, wir haben bloß Gedanken. Aus Angst vor der eruptiven Gewalt, die in unserem Kopf toben könnte, wagen wir es nur,
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