Glücksklee
Prolog
«Ehrlich gesagt, mein erster Gedanke war, dass es meine Doughnuts sein müssten», begann Ella, «oder irgendetwas anderes. Es ist ja nichts Ungewöhnliches, dass ich frühmorgens schon frische Ware vor der Tür des Cafés finde.»
«Um wie viel Uhr war das genau?»
«Lass mich mal überlegen.» Ella machte eine kurze Pause. «Die Milch kommt gewöhnlich so um fünf, gut zwei Stunden, bevor ich aufmache, und die üblichen sechs Liter standen schon links vom Eingang in der Ecke. Aber dieser Karton lag direkt vor der Tür, ich konnte ihn gar nicht übersehen.»
«Verstehe.»
«Ich war ein bisschen verärgert, das muss ich zugeben. Und ich nahm mir vor, der Bäckerei mal ordentlich die Meinung zu sagen, weil sie außerhalb meiner Öffnungszeiten geliefert hatten, ohne mich zu benachrichtigen», fuhr Ella bedächtig fort, «aber gerade, als ich den Karton öffnen wollte, da hörte ich … da kam von innen ein Geräusch.»
«Ein Geräusch?»
«Es klang fast wie ein Wimmern. Ganz schwach, wie von einem kleinen Tier. Da habe ich natürlich sofort gedacht, aha, Familienzuwachs – mal wieder eine notleidende Kreatur.»
«Du hast gedacht, irgendjemand, der weiß, dass du streunende Tiere aufnimmst, hätte dir eins vor die Tür gestellt?»
«Genau. Hier in Lakeview kennen mich doch alle, und jeder weiß, dass ich nicht nein sagen kann.» Ella lächelte ein wenig. «Aber als ich den Karton aufmachte und sah, was da vor meiner Tür gestrandet war, kriegte ich den größten Schreck meines Lebens.» Sie schwieg einen Moment und ließ ihre Worte wirken.
«Was hast du dann gemacht?»
«Ich habe natürlich die Polizei gerufen. Frank war schon nach ein paar Minuten da. Es ist ja zu Fuß nicht weit von der Wache bis hierher, aber er ist trotzdem mit dem Streifenwagen gekommen. Und ich habe Jim Kelly angerufen.»
«Das ist der Arzt hier in Lakeview?»
«Ja. Und ich habe auch einen Krankenwagen gerufen. Also, nur für alle Fälle.»
«Das klingt, als hättest du einen klaren Kopf behalten.»
«Überhaupt nicht», protestierte Ella. Sie wirkte ein wenig nervös. «Im Gegenteil, ich stand richtig unter Schock! Erst als der Krankenwagen wieder abgefahren war und Dr. Kelly uns versichert hatte, das Baby sei körperlich ganz gesund und es gebe keine Anzeichen für eine Unterkühlung, da entspannte ich mich ein bisschen. Der Karton konnte noch nicht lange da draußen gestanden haben, und wir waren uns alle einig, dass derjenige, der ihn mir vor die Tür gestellt hatte, meinen Tagesablauf gut kannte.»
«Aber das ist keine Entschuldigung, oder? Ich meine, wer legt denn bei eisiger Kälte ein Neugeborenes in einem Pappkarton vor eine Tür?»
«Ich verstehe es auch nicht. Frank vermutete, dass die Mutter sich vielleicht irgendwo in der Nähe versteckt hatte und den Karton im Auge behielt. Dass sie wartete, bis ich das Kind fand. Aber ehrlich gesagt, ich war so bestürzt, dass ich mich gar nicht umgesehen habe.»
«Ist ja klar.»
«Frank meinte, es wäre höchstwahrscheinlich ein Missverständnis, und er würde das ruck, zuck aufklären. Ella, hat er gesagt, wenn du mich fragst, ich denke, das kleine Würmchen wurde mit Absicht ausgerechnet vor deinem Café abgelegt. Denn wenn in dieser Stadt jemand genau weiß, was in einem solchen Fall zu tun ist, dann bist du das. Du kannst toll mit Kindern umgehen, und du nimmst doch auch immer herrenlose Tiere auf.» Bekümmert schüttelte Ella den Kopf. «Im Grunde habe ich das auch so gesehen, aber hier ging es ja nicht bloß um einen elenden alten Köter, sondern um ein armes, unschuldiges kleines Baby. Ich meine, unser Städtchen ist doch klein, und die Menschen hier passen aufeinander auf – anders als in einer anonymen Großstadt.»
«Ich weiß, was du meinst.»
«Deswegen habe ich auch kein Verständnis dafür. Meiner Meinung nach gibt es nichts – aber auch wirklich gar nichts –, was rechtfertigen könnte, dass man ein wehrloses Baby auf der Straße aussetzt. Aber», fügte Ella mit einem tiefen Seufzer hinzu, «wer hier ein Urteil fällt, ohne die ganze Geschichte zu kennen, macht es sich wohl zu leicht.»
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Kapitel 1
Nina Hughes hatte Lakeview nie gemocht, aber diesmal fand sie den Ort sogar richtig abstoßend. Sie wünschte, ihre Mutter hätte sich für die Weltreise mit ihrem Stiefvater einen anderen Zeitpunkt ausgesucht. Denn ausgerechnet jetzt brauchte Nina dringend eine Schulter, an der sie sich ausweinen konnte. Und, noch viel
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