Glueckstreffer - Roman
betrachtete sie prüfend die Kabel und hohen Pylonen der Tacoma-Narrows-Brücke, die Gig Harbor und die Olympic-Halbinsel mit dem Festland des Staates Washington verband.
An den meisten Tagen genügte diese Aussicht durchaus, um sie von den bitteren Realitäten des Lebens abzulenken. An diesem Tag gelang dies nicht.
Für Sophie war es ein Tag voller Reuegefühle, und nichts vermochte die Trauer und den Kummer zu vertreiben, die dieses besondere Datum alljährlich von Neuem in ihr weckte. Nicht die Natur, nicht die Segelschiffe, nicht die Brückenkonstruktion vor den fast blinden Busfenstern konnte die Vergangenheit vergessen machen. Mein Tag der Selbstgeißelung , sagte sie sich, als sie ihren Schirm in den Zwischenraum zwischen Sitz und Heizung schob. Meine ganz persönliche Inszenierung des Selbstmitleids. Ich kann mich so elend fühlen, wie ich will, an meinem …
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Sophie!«
Sophie zuckte zusammen. Die lauten Worte rissen sie abrupt aus den Gedanken. »Was zum Teufel …«, entfuhr es ihr. Dann erst erkannte sie die Frauenstimme. »Gütiger Himmel, Evi! Musst du mich derart erschrecken? Was machst du denn hier?« Sophie ignorierte die neugierigen Blicke einiger Pendler, die ihre Hälse reckten und sich zu den beiden Frauen umdrehten.
»Überraschung! Und die ist mir offensichtlich gelungen.« Evi lächelte entwaffnend, zwinkerte ihr zu und ließ sich eine Reihe vor ihr auf einen freien Platz fallen.
Sophie musterte sie mit gespielter Missbilligung. »Prima Idee«, sagte sie trocken. »Meine beste Freundin überfällt mich hinterrücks und noch dazu in aller Öffentlichkeit mit Glückwünschen. Du hättest mir genauso gut auflauern und mich umbringen können! Und alles nur, um mich an ein bestimmtes Datum zu erinnern.«
Evi strahlte unverdrossen. »Als ob ich dich daran erinnern müsste«, stichelte sie. »Und hinterrücks war das schon gar nicht. Ich bin zwei Haltestellen vor dir eingestiegen. Du hast mich in deinem morgendlichen Tran einfach übersehen. Ich habe vergeblich versucht, mich bemerkbar zu machen.« Evi wurde ernst. »Ach, Schwamm drüber. Du hast Geburtstag, und deshalb verzeihe ich dir.«
»Mein Geburtstag … der schlimmste Tag des Jahres.«
»Blödsinn«, entgegnete Evi fröhlich. »Wir wissen beide, dass der schlimmste Tag schon eine Ewigkeit her ist. Heute ist eine Art Neubeginn! Das Gute ist nah!«
Evi war eine kleine Brünette mit ansteckendem Lächeln, lebhaftem Humor und einem wunderbar bronzefarbenen Teint, dem auch der strengste Winter nichts anhaben konnte. Haarfarbe und Lächeln hatte sie von ihrer Mutter geerbt, die Hautfarbe von ihrem lateinamerikanischen Vater, den sie jedoch nie kennengelernt hatte. Ihr Humor half ihr durch alle Stürme des Lebens hindurch, und sie gehörte zu dem kleinen Personenkreis, dem Sophie bedingungslos vertraute.
Zu Sophies Kummer war aus ihrer Freundin Evalynn Marion Mason vor Kurzem Evalynn Marion Mason- Mack geworden. Das sechs Monate alte Anhängsel an ihrem Namen war das Resultat ihrer Eheschließung mit Justin Mack, ihrem Freund aus Collegezeiten. Sophie hatte nichts gegen Justin, im Gegenteil: Sie freute sich für ihre Freunde. Doch das Glück der beiden weckte in ihr zunehmend das Gefühl, ihr eigenes Leben verpasst zu haben; ein Gefühl, das geradezu beklemmend geworden war, seit Evalynn vor zwei Monaten ihre Schwangerschaft bekannt gegeben hatte.
Rein äußerlich waren Evi und Sophie so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Evi war klein. Sophie war groß. Evi hatte glattes braunes Haar und trug einen kurzen Bob, während Sophies goldblonde Locken ihr unbändig über die Schultern fielen. Evi war der kontaktfreudige, Sophie der eher zurückhaltende Typ. Wer die beiden kannte, musste einfach davon ausgehen, dass ihre Freundschaft auf dem Prinzip »Gegensätze ziehen sich an« beruhte. Doch sowohl Sophie als auch Evalynn wusste, dass dies den Kern ihrer Beziehung bei Weitem nicht traf. In Wirklichkeit fühlten sie sich wie Schwestern. Was sie verband, konnte kaum jemand verstehen, der in normalen Familienverhältnissen groß geworden war. Denn so unterschiedlich sie äußerlich auch wirkten, hatten sie doch zweierlei gemeinsam, und das hielt sie zusammen wie Pech und Schwefel: ein tragisches Schicksal und ihre Pflegemutter.
Sophie seufzte hörbar. »Ich hasse meinen Geburtstag. Das weißt du.«
»Stimmt.«
»Du hättest heute Morgen einfach mit deinem Mann im Bett bleiben und mich in meinem
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