Glut der Verheißung - Kleypas, L: Glut der Verheißung - Seduce me at sunrise
musterte Wins Profil. Wie üblich zeigte sie keinerlei Gefühle, ihr fein gemeißeltes Gesicht war gelassen und ruhig. Aber er bemerkte die roten Flecken, die auf ihren blassen Wangen brannten, und die Art, wie ihre Finger sich verkrampften und das
bestickte Taschentuch in ihrem Schoß zerknüllten. Es war ihm nicht entgangen, dass Merripen mit seiner Abwesenheit geglänzt und ihnen nicht Lebewohl gesagt hatte. Leo fragte sich verwundert, ob er und Win sich womöglich gestritten hatten.
Seufzend legte Leo seiner Schwester den Arm um die schmalen, zerbrechlichen Schultern. Sie versteifte sich, entwand sich jedoch nicht seiner Umarmung. Nach einem kurzen Moment hob sie das Taschentuch und betupfte sich die Augen. Sie hatte Angst, war krank und fühlte sich miserabel.
Und er war alles, was ihr geblieben war, dachte er erschrocken. Gott stehe ihr bei!
»Du hast doch hoffentlich keines von Beatrix’ Haustieren mitgenommen, oder?«, wollte er sie aufmuntern. »Ich warne dich, wenn du einen Igel oder eine Ratte mitgenommen hast, geht das Tier über Bord, sobald wir das Schiff betreten.«
Win schüttelte den Kopf und schnäuzte sich.
»Du musst wissen«, sagte Leo im Plauderton und drückte sie weiter an sich, »du bist die am wenigsten amüsante meiner Schwestern. Wie ist es eigentlich gekommen, dass ich ausgerechnet mit dir nach Frankreich fahren muss?«
»Glaub mir«, kam ihre schniefende Antwort, »ich wäre nicht so langweilig, wenn ich in dieser Angelegenheit auch nur das kleinste Wörtchen mitzureden hätte. Sobald ich gesund bin, werde ich mich sehr unanständig benehmen.«
»Nun, das ist doch zumindest eine Aussicht, auf die man sich freuen kann.« Er legte seine Wange an ihr weiches blondes Haar.
»Leo«, fragte sie zögerlich, »warum hast du dich
freiwillig angeboten, mit mir in das Sanatorium zu gehen? Du willst ebenfalls gesund werden, nicht wahr?«
Leo war gleichzeitig gerührt und ungehalten über die harmlose Frage. Wie der Rest der Familie betrachtete Win seine ausschweifenden Trinkgewohnheiten als eine Krankheit, die durch eine Zeit der Abstinenz und eine förderliche Umgebung geheilt werden konnte. Doch sein Trinken war nur das Symptom der echten Krankheit – einer so überwältigenden Trauer, die bisweilen drohte, sein Herz zum Stillstand zu bringen.
Es gab kein Heilmittel, um den Verlust von Laura zu überwinden.
»Nein«, sagte er zu Win. »Ich hege nicht die Hoffnung, gesund zu werden. Ich will lediglich mein ausschweifendes Leben vor einer neuen Kulisse fortsetzen.« Seine Worte entlockten ihr ein leises Kichern. »Win … habt du und Merripen euch gestritten? Ist das der Grund, weshalb er sich nicht verabschiedet hat?« Nach einem langen Schweigen rollte Leo mit den Augen. »Wenn du auch weiterhin so wortkarg bist, Schwesterherz, wird das in der Tat eine lange Reise.«
»Ja, wir haben uns gestritten.«
»Worüber? Das Sanatorium?«
»Nicht wirklich. Zum Teil, aber …« Win zuckte unbehaglich mit den Schultern. »Es ist so kompliziert. Es würde zu lange dauern, es zu erklären.«
»Wir werden einen Ozean und halb Frankreich durchqueren. Glaub mir, wir haben reichlich Zeit.«
Nachdem die Kutsche abgefahren war, ging Cam zu den Stallungen hinter dem Hotel, einem sauberen Gebäude mit einem Pferdestall und einem Unterstand für Kutschen im Erdgeschoss und dem Wohntrakt der Bediensteten in der oberen Etage. Wie erwartet, kümmerte sich Merripen um die Pferde. Seine Bewegungen waren geschmeidig, schnell und methodisch, während er Cams schwarzem Wallach mit einer Bürste über die schimmernden Flanken strich.
Cam beobachtete ihn einen Moment, wobei er die Geschicktheit des Rom anerkennen musste. Das Vorurteil, dass Zigeuner außergewöhnlich gut mit Pferden zurechtkamen, war kein Mythos. Ein Rom betrachtete ein Pferd als einen Kameraden, ein Tier der Poesie mit unermesslichen Instinkten. Und Pooka tolerierte Merripens Anwesenheit mit einer ruhigen Gelassenheit, die er nur wenigen Menschen entgegenbrachte.
»Was willst du?«, fragte Merripen, ohne aufzublicken.
Gemächlich betrat Cam den offenen Stall und lächelte, als Pooka den Kopf senkte und ihn anstupste. »Nein, mein Junge … heute habe ich kein Zuckerstück für dich.« Er tätschelte ihm den muskulösen Hals. Cams Hemdärmel waren bis zu den Ellbogen aufgerollt, gaben den Blick auf die Tätowierung an seinem Unterarm frei, einem schwarzen Pferd mit Flügeln. Cam hatte keinerlei Erinnerung daran, wann er die Tätowierung
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