Glut und Asche
gnadenlose Raubtiere, die die Macht, die ihnen ein willkürliches Schicksal geschenkt hatte, missbrauc h ten, um zu töten und zu morden.
Abu Dun wollte etwas sagen, als sie die Anwesenheit eines vierten, fünften und schließlich sechsten Vampyrs spürten. Keiner davon hielt sich in ihrer unmittelbaren Nähe auf, aber sie waren doch nahe genug, um umgekehrt ihre Anwesenheit spüren zu können. Andrej ertappte sich dabei, ganz instinktiv nach einem Fluchtweg Ausschau zu halten.
Und irgendwo tief in seinem Inneren ... erwachte etwas - sein uralter, dunkler Bruder, der sein schlimmster Feind und z u gleich sein mächtigster Verbündeter war und jetzt an seinen Ketten zu zerren begann.
Abu Dun machte ein fragendes Gesicht, und diesmal bedur f te es nicht einmal ihrer Zeichensprache. Abu Dun hatte völlig recht. Er hatte ganz gewiss keine Angst vor den als Menschen verkleideten Raubtieren, aber er war auch kein Dummkopf. Und Leichtsinn hatte nie zu seinen hervorstechenden Chara k tereigenschaften gezählt, auch wenn es manchmal den Anschein haben mochte. Selbst über die Entfernung hinweg konnten sie die Kraft der anderen Vampyre spüren. Mindestens einer von ihnen war uralt, älter als sie selber und sehr viel stärker... was den Nubier im Zweifelsfall nicht daran gehindert hätte, sich mit Freuden auf den Gegner zu stürzen. Aber sie waren zu sechst, und Abu Dun und er hatten nicht einmal eine Waffe. Das einzig Vernünftige, was sie in einer Situation wie dieser tun konnten, war auf der Stelle kehrtzumachen und zu verschwinden, sola n ge es noch ging.
Er deutete ein Nicken zur Tür hin an, und Abu Duns Lächeln wurde resignierend. Er ging noch nicht sofort, sondern huschte noch einmal zu der baufälligen Treppe und kam wenige S e kunden später mit zwei abgebrochenen Geländerpfosten zurück, von denen er Andrej einen reichte. »Das benutzt man doch zur Jagd auf Vampyre, oder?«, feixte er.
Andrej nahm die improvisierte Keule kommentarlos entg e gen, sah noch einmal aufmerksam aus der Tür und deutete dann nach links. Die Gerberei lag in der entgegengesetzten Richtung, aber um sie zu erreichen, hätten sie einen mindestens dreißig Schritte messenden Streifen vollkommen deckungslosen G e ländes überqueren müssen, und wenn schon nicht den Vampyrsinnen ihrer Gegner, so würden sie wohl kaum ihren scharfen Augen entgehen. In der anderen Richtung gab es hi n länglich Deckung.
Abu Dun huschte als Erster los und brachte wieder einmal das Kunststück fertig, trotz seiner Größe zu einem Schatten zu werden, den Blicke nicht wirklich zu erfassen vermochten, ganz egal, wie angestrengt man es auch versuchte. Er verschmolz im nächsten Augenblick mit dem echten Schatten eines verrotteten vierrädrigen Wagens, auf dem sogar noch seine mindestens zehn Jahre alte Ladung vor sich hin moderte. Der Nubier ließ eine Sekunde verstreichen, in der sie beide mit angehaltenem Atem darauf warteten, dass ein Schrei erscholl oder sich etwas an der psychischen Präsenz der anderen Vampyre änderte - aber nichts geschah. Andrej spürte die Anspannung der unsichtbaren Wesen, aber sie galt nicht ihnen.
Seltsamerweise trug diese Erkenntnis noch dazu bei, seine Beunruhigung zu schüren, statt sie zu besänftigen.
Ungeduldig winkte Abu Dun ihm auffordernd zu, und Andrej schüttelte den Gedanken ab und ärgerte sich nicht zum ersten Mal an diesem Tag über sich selbst. Er war zögerlich, und viel schlimmer: Er hatte seine Gedanken nicht unter Kontrolle und erlaubte ihnen abzuschweifen, etwas, das sich im falschen M o ment durchaus als tödlich erweisen konnte.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Abu Dun. Andrej nickte nur knapp. Manchmal war es von Vorteil, wenn sich zwei Menschen so lange kannten, dass der eine die Gedanken des anderen so zuverlässig erraten konnte, als wären es seine eig e nen. Manchmal allerdings war es ihm auch lästig.
Der Nubier deutete auf eine andere Deckung und huschte wortlos voraus, und dieses Mal folgte ihm Andrej sofort. Abu Dun empfing ihn trotzdem mit einem spöttischen Blick, sagte aber nichts und huschte nur hinter den nächsten Wagen. Es dauerte eine Weile, aber schließlich näherten sie sich der Rückseite der Gerberei.
Hier war es stiller. Der Schatten des wuchtigen Gebäudes bewahrte sie vor einer zufälligen Entdeckung, und auch die Präsenz der anderen Vampyre war hier nicht mehr so stark zu sp ü ren wie auf der anderen Seite. Noch eine letzte Etappe, und sie hatten zumindest das Gebäude
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