Glutroter Mond
Ich öffne die Tür, hinter der Neal sein erbärmliches Dasein fristet. Es ist fast vollständig dunkel im Raum und die Luft ist verbraucht. Eigentlich möchte ich mich bloß meines lästigen Anhängsels entledigen, aber ehe ich die Tür wieder schließen kann, macht Neal einen Satz nach vorn und greift nach meinem Handgelenk.
»Können wir uns kurz unterhalten?« Er ignoriert die Tatsache, dass ich ihm gerade eine Leidengenossin gebracht habe. Diese sitzt jetzt kauernd an einer Wand und wimmert.
Ich ziehe die Augenbrauen hoch. Am liebsten hätte ich laut aufgelacht. »Unterhalten? Weshalb?«
»Weil ich dir noch etwas mitzuteilen habe, ehe du mich tötest.«
»Ich werde dich nicht töten.«
Ich höre Schritte hinter mir. Vince geht an mir vorbei. »Alles klar? Macht sie Ärger?«
»Ich komme zurecht«, knurre ich und bin froh, dass er dies nur mit einem Achselzucken kommentiert und an mir vorbei geht in Richtung unserer Privatzimmer. Die anderen sind längst vorgegangen. Ich bin allein im Gang.
Neal nimmt den roten Faden unseres Gesprächs wieder auf. »Du wirst mich nicht töten? Ach, komm. Du willst Holly benutzen und mich eiskalt verschwinden lassen.«
Er bohrt seinen Zeigefinger zwischen meine Rippen. Was erlaubt er sich? Ich ziehe Neal am Arm heraus aus der Zelle auf den Gang. Dabei rutscht sein Ärmel ein Stück hinauf. Habe ich da gerade einen kleinen schwarzen Fleck an seinem linken Handgelenk gesehen? Noch ist es klein und sternförmig, aber es wird sich ausbreiten.
»Du hast ein Mal?!«
Schnell zieht Neal den Ärmel wieder herunter, als ob er damit ungeschehen machen könnte, was ich gesehen habe. »Das tut jetzt nichts zur Sache«, presst er hervor.
Oh doch, das tut es. Das erklärt nämlich, weshalb wir ihn nicht mehr als Energiespender benutzen können. Neal wurde in einen V23er verwandelt. In einen Acrai wohl kaum, denn das können nur die Wandler. Und soweit ich weiß, bin ich der einzige weit und breit. In meinem Gehirn läuft eine Gedankenkaskade ab, innerhalb von Sekundenbruchteilen. Natürlich ... Neal war mindestens einen Tag lang verschwunden, in der Obhut der V23er. Haben sie ihm von ihrem wertvollen Serum gegeben? Weshalb?
Neal reißt mich aus meinen Gedanken. Er kommt mir so nahe, dass ich seinen Atem auf meiner Haut spüre. »Lass die Finger von Holly, verstehen wir uns?«
Er droht mir? Pah! Ich habe doch keine Angst vor ihm. Was bezweckt er damit? »Ich denke nicht, dass du dich in der Position befindest, etwas von mir zu verlangen.«
»Nicht? Ich kann schreien und allen verraten, dass du Holly nie getötet hast. Möchtest du das?«
Ich lasse mich nicht gerne unter Druck setzen, aber einen Augenblick lang rutscht mir das Herz in die Hose. Ich spiele mit dem Gedanken, ihm hier an Ort und Stelle das Genick zu brechen, muss aber ständig daran denken, wie viel er Holly bedeutet. Ich möchte nicht, dass sie mich hasst.
»Bist du tatsächlich so kaltherzig, deine eigene Freundin zu verraten, um mir eins auszuwischen?« Ich senke die Stimme zu einem Flüstern. In mir brodelt es gewaltig.
Neal grinst nur dämlich. Ist seine Bosheit etwa eine Nebenwirkung des Serums der V23er? Oder ist er nur wie ein Hund, der bellt und nicht beißt?
»Ich verlange doch nur eines: Lass Holly und mich gehen und misch dich nie wieder in unser Leben ein«, sagt er. »Holly war ein liebes und vernünftiges Mädchen, ehe du sie verdorben hast. Du wirst sie mir nicht wegnehmen.«
»Mach dir nicht ins Hemd. Ich habe Holly versprochen, euch beide zurück in eure Stadt zu bringen. Also halte die Füße still, mein Lieber.«
Mit diesen Worten öffne ich erneut seine Zellentür und stoße ihn hinein. Manchmal ist es wirklich von Vorteil, sich schneller bewegen zu können als ein Mensch. Ehe Neal reagieren kann, hat sich die Tür bereits wieder geschlossen.
Fassungslos mache ich mich auf den Weg zu meinem Zimmer. Was war das für ein verdorbener Tag!
Während ich durch den Flur gehe, überschlagen sich meine Gedanken. Wie werde ich gleich auf Holly reagieren? Wie wird sie reagieren? Wird sie weinen, sich freuen oder gar wütend sein? Soll ich ihr erzählen, was ich über Neal herausgefunden habe? Mir ist nur immer noch schleierhaft, weshalb die V23er ihn
optimiert
haben, wie sie es selbst ausdrücken, um ihn dann entwischen zu lassen. Ist er überhaupt freiwillig gegangen? Was ist innerhalb der vierundzwanzig Stunden passiert, nachdem die V23er ihn mitgenommen haben? Ich sollte auch mal ein ernstes Wort
Weitere Kostenlose Bücher