Glutroter Mond
zwischen meine Zähne hervor.
Natürlich gibt es einen Grund. Ich muss mich allmählich damit abfinden, Holly und Neal zurück in ihre Heimat zu bringen. Jeder Gedanke an sie quält mich. Ich habe das Wort
Herzschmerzen
immer für eine Metapher gehalten, aber dass es tatsächlich körperlich weh tut, hätte ich nie für möglich gehalten. Immer wieder denke ich daran, dass Holly in diesem Augenblick in meinem Zimmer ist, allein. Ich habe ihr verboten, es zu verlassen, weil Gavin, unser Computerfreak und Eigenbrötler, im Quartier verblieben ist und die Stellung hält.
Gavin und .... Maureen. Die hat mir gerade noch gefehlt! Erst vor zwei Tagen ist sie aus Albany, einer Stadt etwa einhundertfünfzig Meilen den Hudson River hinauf im Staat New York zu uns nach New Jersey gekommen. Ich hatte gewusst, dass dieser Tag irgendwann kommen würde. Schon vor einigen Jahren, bei der letzten Zusammenkunft der Acrai aus dem Norden der USA, wurde es beschlossen. Ich hatte mir damals diesen Körper erst frisch zugelegt und lebte noch nicht lange bei Layton, Vince und den anderen. Das Gesetz bestimmt, dass Acrai sich vor ihrem Ableben mit etwa dreißig Jahren einen Partner gesucht haben müssen, um unser Fortbestehen zu gewährleisten. Natürlich funktioniert das auch mit Menschen, auf diese Weise sind immerhin fast alle von uns einst entstanden, aber seit einigen Jahrzehnten besteht der Oberste Rat darauf, unser Blut rein zu halten. Ich habe es damals gleichgültig hingenommen. Oh man, wie ich mich jetzt dafür hasse! Ich hätte mit offenen Karten spielen sollen, das hätte mir diese Zwangsehe erspart. Aber nein, ich habe es ja vorgezogen, allen einen Durchschnittsacrai vorspielen zu müssen. Ich habe mir sogar ein Tattoo zugelegt, das den Malen der anderen täuschend ähnlich sieht. Wenn die wüssten ... Eigentlich stünde mir selbst ein Platz im Obersten Rat zu. Ich gehöre zu den Handvoll Acrai, die nie durch Vermischung mit Menschenblut entstanden sind. Ich bin ein sogenannter
Wandler
, einer der ersten Acrai, die sich vor mehr als zweitausend Jahren aus den Fragmenten eines in mehrere Splitter zerfallenen Herzens eines gefallenen Engels neu erfunden haben. Ich sterbe nicht mit dreißig. Nein. Aber um den Schein zu wahren, suche ich mir gelegentlich einen neuen Körper. Aus dieser Wandelbarkeit ging auch unser Name hervor. Einen Menschen aus seiner Hülle zu verdrängen und sich selbst darin einzunisten, ist einfach. Der Arroganz der Wandler ist es zu verdanken, dass sich die Erde heute überhaupt in diesem Zustand befindet. Unsere Herumspielerei an unserem und dem Erbgut der Menschen ist es zu verdanken, dass die V23er so mächtig werden konnten. Sie haben alles zerstört, die Menschheit ausgerottet. Ich fühle mich schuldig, weil auch ich vor fast zwei Jahrhunderten in einem Anfall von Größenwahn neue Acrai aus meinem Blut geschaffen habe. Ihre Gensaat fließt jetzt durch den Abschaum, der in seiner Zentrale sitzt und sich in seinem eigenen Glanz sonnt. Seitdem habe ich keinen Menschen mehr in einen Acrai verwandelt. Ein Glück, dass diese Fähigkeit allein den Wandlern vorbehalten ist. Die niederen, von Menschen geborenen Acrai sind auf Fortpflanzung angewiesen. Und ich habe so getan, als gelte das auch für mich ... Ich hätte ahnen müssen, dass mir meine Versteckspielerei irgendwann zum Verhängnis werden würde. Jetzt bin ich dieser Maureen versprochen, und die springt just in diesem Moment im Quartier herum. Dabei wäre ich jetzt viel lieber bei Holly ... Und was mache ich? Anstatt die letzten uns verbliebenen Minuten gemeinsam mit ihr zu verbringen, sitze ich schon wieder im Auto, um auf die Jagd zu gehen. Allein bei dem Gedanken daran wird mir schon schlecht. Ich habe keinen Hunger mehr verspürt, seit Holly mir freigiebig einen Teil ihrer eigenen Emotionen überlassen hat. Und dennoch muss ich die Fassade aufrecht erhalten.
»Da, rechts! Die Ausfahrt!«, ruft Sienna vom Rücksitz.
Beinahe hätte ich vor Schreck das Lenkrad herumgerissen. Ein Glück, dass außer uns niemand auf den Straßen unterwegs ist. Gespenstisch.
Ich fahre eine scharfe Rechtskurve und biege auf den Highway 95 ein, der uns an den Rand von Newark bringen wird, einer Nachbarstadt von Jersey City. Dort lebt ebenfalls eine Handvoll freier Menschen, zumindest haben sie das noch getan, als wir das letzte Mal vor drei Monaten dort gewesen sind. Meine Sippe wechselt des Öfteren ihr Jagdrevier, um keine Massenpanik auszulösen und die V23er von
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