Glutroter Mond
Gang gezerrt, zurück ins Licht. Langsam lässt der Tränenstrom nach und ich kann die Augen wieder öffnen. Jemand greift und umschließt meinen Oberarm mit roher Gewalt. Ich wende ihm den Kopf zu. Es ist einer jener Kerle, die ich auf der Sitzbank gesehen habe, als Cade uns hereingebracht hat. Er hat ebenso wirres Haar wie Cade, aber es ist hellbraun, nicht schwarz. Bartstoppeln überziehen sein Kinn und die Wangen, seine Augenfarbe ist dieselbe wie Cades - ein leuchtendes orangebraun. Wer sind diese Menschen?
Was
sind diese Menschen? Wie viele gibt es von ihnen?
Während wir schweigend den Flur entlanggehen, sammle ich all meinen Mut. Was habe ich zu verlieren? Ich räuspere mich.
»Wo ist Neal?« Meine Stimme klingt belegt. Ich drehe mich über die Schulter hinweg um, doch alle Türen entlang des Flures sind geschlossen. Hinter irgendeiner befindet sich mein bester Freund.
Als ich keine Antwort erhalte, spreche ich lauter, vom Mut der Verzweiflung beflügelt. »Wo ist Neal?«
Ehe mein Verstand es begreifen kann, brennt meine Wange. Der Fremde reißt mich am Arm herum, sodass er mir in die Augen sehen kann. Sein Schlag kam unvermittelt. Jetzt schüttelt er mich. Ich zwinge mich, seinen Blick zu erwidern und nicht zu Boden zu sehen.
»Stell keine Fragen!«
Das tue ich auch nicht mehr. Ich weiß, dass sie mir niemand beantworten wird.
Der Kerl zerrt mich die Steintreppe hinauf. Mein Herz klopft. Bringt er mich zurück nach draußen?
Tatsächlich öffnet er die Tür, durch die Cade uns in das unterirdische Höhlensystem gebracht hat. Das Auto steht noch immer direkt davor.
Er zieht mich hinter sich her um eine Biegung herum. Die Sonne scheint, frische Luft streicht mir über die Haut. Ich habe nie zuvor geahnt, wie wunderschön ein Tag sein kann. Es riecht nach Erde und Staub. Nach der langen Dunkelheit in meiner Zelle erscheint es mir wie ein Paradies. Doch schon schubst mich der Mann in eine andere Öffnung im Gestein, das sich über dem Höhlensystem auftürmt. Wir befinden uns jetzt in einem Raum, oder eher gesagt einer Nische, im nackten Fels. Auf dem Boden steht ein breites Fass, das oben offen ist und mir bis zur Hüfte reicht. Es besteht aus Metall. Darin befindet sich bis eine Handbreit unter dem Rand Wasser. Mich überkommt der Drang zu trinken. Als sich der Griff um meinen Oberarm lockert, stürze ich mich auf das Fass und versenke meinen Kopf darin. Das Wasser ist eiskalt. Ich nehme tiefe Schlucke und vergesse für einen Augenblick meine Umgebung. Als ich mich wieder aufrichte, sind meine Haare und der obere Teil meines Anzug komplett durchnässt. Der Mann sieht mich mit einem angewiderten Blick an. Oder ist es Furcht in seinen Augen? Ich kann es nicht deuten. Er tritt einen Schritt zurück unter den Sturz der türlosen Öffnung.
»Zieh dich aus und wasch dich.«
»Komplett?« Der Gedanke schockiert mich.
»Meinetwegen lass den Anzug dabei an. Der stinkt sowieso.«
Einen Augenblick lang starre ich ihn nur an, unschlüssig, ob meine Angst vor den Konsequenzen meines Ungehorsams oder die Scham stärker ist. Als der drahtige Kerl die Zähne fletscht, entschließe ich mich für ersteres. Ich möchte seinen Zorn nicht heraufbeschwören.
Mit hochrotem Kopf öffne ich den Reißverschluss meines Anzuges, jedoch nicht, ohne zuvor die Karte aus der Brusttasche zu nehmen. Ich lege sie neben das Fass. Erstaunlicherweise scheint sich der Kerl nicht dafür zu interessieren.
Ich ziehe den Anzug nur bis zur Hüfte herunter, mein weißes Unterhemd lasse ich an. Ich ziehe meine Schuhe aus und steige mit Socken in das kalte Wasser, was mich viel Überwindung kostet.
Der Mann knurrt und zieht etwas aus seiner Hosentasche, das er neben das Fass wirft. Es ist weiß und kaum größer als zwei Fingernägel.
»Starre die Seife nicht an, benutze sie!«
Mit zitternden Händen greife ich danach und beginne, mich zu waschen. Der Fremde geht, noch während ich bade, was mich verwundert. Weshalb lässt er mich allein? Und was soll ich machen, wenn ich aus dem Wasser steige? Weglaufen? Nein, das nützt nichts. Das wissen die Geiselnehmer sicher auch.
Ich wasche meine Haare und versuche, meine wirren Gedanken zu ordnen. Was wollen diese Menschen von Neal und mir? Würde man eine Geisel baden lassen? Einen Herzschlag lang kommt mir in den Sinn, es könnte sich um Menschenfresser handeln, die lieber sauberes Essen zu sich nehmen. Lächerlich. Oder? Andererseits ... Ich habe auch nie geglaubt, die Welt könne größer
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