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Gnade

Gnade

Titel: Gnade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linn Ullmann
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fünf Jahre später zu, als er ihr von seinem Arztbesuch erzählte.
    Mai stand vornübergebeugt vor dem Spiegel. Die Bürste glitt durch ihr Haar. Eins-zwei-drei-vier-fünf-sechs-sieben-acht Mal durch ihr Haar. Johan lag im Bett, versuchte, die richtigen Worte zu finden. Sollte er von der Arztpraxis erzählen, dass sie klein und klaustrophobisch war oder dass der Arzt nach Schweiß roch und jünger war als Andreas? Sollte er von den Worten »alarmierend« und »Streuung« erzählen? Er sah Mai an und dachte: Sie soll mir helfen. Sie soll die Arme um mich legen und sagen, dass sie mich liebt. Sie soll die Arme um mich legen und sagen, dass sie mir helfen wird, wenn es notwendig werden sollte. Sterben zu können, wann er es wollte. Sterben zu können ohne unerträgliche Schmerzen. Es ging um Würde, und Johans Leben war nie ein Ausbund an Würde gewesen.
    Â 
    Er betrachtete sie erneut, dort vor dem Spiegel. Wusste nicht recht, wie er anfangen sollte. Fand die Worte nicht.

    In der Nacht, bevor Johans Vater starb, fand man ihn nackt auf allen vieren durch Nachbars Garten krabbelnd, eine dicke Spur Exkremente hinter sich herziehend.
    Als dem Vater am Tag darauf klar wurde, was er getan hatte, weinte er vor Scham. Er packte seine Frau am Arm und bat sie um Verzeihung.
    Johan war fünfzehn.
    Â»Setz dich zu mir!«, bettelte Johans Vater. »Verlass mich nicht, Agnes, bitte!«
    Die Mutter kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf.
    Â»Geh nicht weg ...«, schrie er. »Du kannst nicht ... Ich bitte dich ...«
    Â»Ich kann das nicht«, sagte die Mutter und ging aus dem Zimmer.
    Da begann Johans Vater zu brüllen.
    Die Tür wurde geschlossen.
    Johans Mutter, Johans halbwüchsige Schwester und Johan saßen auf dem Sofa in der Stube. Die Lichter wurden gelöscht. Die Tür war geschlossen. Der Vater brüllte. Stunde um Stunde brüllte er. Am Ende ein paar Hilferufe.
    Einmal, lange bevor er krank geworden war, hatte Johans Vater die Schlafzimmertür blau gestrichen. Die Mutter fand eine blaue Schlafzimmertür anstößig. Vor allem, als er seine Frau vor den Kindern und einem zufällig anwesenden Nachbarn um die Taille
fasste und erklärte: Sieh nur! Unsere Tür ist eine Himmelspforte, Agnes!
    Jetzt war die Tür geschlossen, die blaue Farbe hatte angefangen abzublättern und der Vater brüllte.
    Als Johan anfing zu weinen, hob die Mutter die Hand und strich ihm über den Kopf. Und dann hob die Schwester die Hand und strich ihm über den Kopf. Johan saß in das Sofa gedrückt, zwischen der Schwester und der Mutter, die ihm über die Haare fuhren, und lauschte dem Brüllen seines Vaters. Als er trotz der Liebkosungen der Frauen nicht aufhörte zu weinen, legte ihm die Mutter die Hände auf die Ohren, eine Hand auf jedes Ohr, und drückte das Geräusch weg. Und dann tat die Schwester das Gleiche, eine Hand auf jedes Ohr. Zunächst die Hände der Mutter, dann die Hände der Schwester auf den Ohren. Und so blieben sie sitzen: Johan in der Mitte, mit den Händen der Mutter und der Schwester auf den Ohren.
    Es dauerte seine Zeit. Niemand rührte sich. Keine Geräusche mehr. Nur eine blaue Tür und vier Hände, zwei Paar große, warme, trockene Handflächen, zwanzig Finger, die seine Ohren berührten. Ihre Körper an seinem. Stunde um Stunde. Die Mutter roch nach Kernseife. Die Schwester roch nach Schweiß, aber nur ganz leicht. Und dann war es vorbei. Johan wusste, dass es vorbei war, weil die beiden Frauen ihn plötzlich losließen, seine Ohren losließen, plopp, wie
ein Weinkorken, der einer Weinflasche entweicht. Und dann nur noch: Stille.
    Johans Mutter stand auf, ging durch das Zimmer und öffnete die blaue Tür. Sie blieb zunächst auf der Türschwelle stehen und schaute sich um, als würde sie ihr eigenes Schlafzimmer zum ersten Mal sehen. Das Licht vom Fenster. Die blauen Gardinen. Die Mahagonikommode mit den Messingknäufen. Das breite Ehebett mit der blauen Bettwäsche, in die sich Johan, als er noch jünger war, liebend gerne eingerollt und versteckt hatte. Die ewig schläfrige Wärme des Elternbetts. Die Mutter rief nach Johans Schwester und gemeinsam legten sie den Toten auf eine Decke im Flur. Anschließend machten sie sich mit Schrubber und Bürste an die Arbeit, schrubbten Boden und Wände, wechselten das Bettzeug, öffneten die

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