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Gnade

Gnade

Titel: Gnade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linn Ullmann
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Fenster und zündeten Kerzen an. Zum Schluss wurde Johans Vater wieder ins Bett gehoben.
    Â»Jetzt will ich mit ihm allein sein. Ich will ihn selbst fertig machen«, sagte Johans Mutter leise und schloss die Tür.
    Â 
    Johan schloss die Augen und öffnete sie wieder. Er betrachtete Mai, die, vornübergebeugt, vor dem Spiegel saß. Die Bürste auf dem Weg durch die Haare. Bisweilen zählte sie laut vor sich hin – achtundsechzig, neunundsechzig, siebzig. Johan war kein begehrter Mann. Er war kein bewunderter Mann. Und er
war kein kontroverser Mann. Er zweifelte daran, ein Mann zu sein, den man vermisste. Aber er war ein geliebter Mann. Er zweifelte nicht an Mais Liebe. Er verstand nur nicht, warum sie ihn liebte. In guten Momenten dachte er, dass er Eigenschaften besaß, die er niemand anderem zu zeigen gewagt oder vermocht hatte als ihr. Aber wenn er nachts wach lag und grübelte, dachte er, dass sie eine dieser Frauen war, die nur einen Mann lieben konnten, der schwächer war als sie, einen, der sie bewunderte und der ihnen ausgeliefert war, und dass eine solche Liebe beide im Grunde erniedrigte. Die gute Liebe gab es zwischen Gleichgesinnten und Ebenbürtigen, nicht wahr? Er betrachtete sie. Nichtsdestotrotz, dachte er, entscheide ich mich für die erniedrigende Liebe, wenn sie zärtlich ist, wie zwischen Mai und mir.
    Einmal vor langer Zeit hatte Johan Mai gebeten, sich selbst mit sechs Worten zu beschreiben. Er hatte ihr ein Blatt Papier gegeben und sie gebeten, eine Liste anzufertigen. Johan war ein Anhänger von Listen.
    Die Worte, die sie auf das Blatt schrieb, waren:
    Willensstark.
    Professionell.
    Hässlich.
    Wort haltend.
    Kinderlos.
    Zufrieden.
    Ehrlich.

    Â»Das sind zu viele Wörter«, sagte Johan, als sie ihm das Blatt gab. »Die Aufgabe lautete, sechs Wörter aufzuschreiben, nicht sieben.«
    Â»Das ist mir egal«, sagte sie und hatte im nächsten Augenblick das Ganze vergessen und etwas anderes angefangen. So war sie, Mai. Johan kannte niemanden, der so schnell war wie sie. Hier war von Geduld die Rede. Mai hatte nicht die Geduld, sich lange Zeit am Stück mit einer Sache zu beschäftigen. Sie ging schnell. Aß schnell. Liebte schnell. Räumte schnell auf. Dachte schnell. Ab und zu ärgerte sie sich über Johan, weil er nicht ebenso rasch war. Weil er Zeit brauchte. Zum Gehen, Essen, Lieben, Aufräumen und Denken. Und zum Durchsehen von Mais Liste. Auch dafür brauchte er Zeit.
    Er hatte um sechs Wörter gebeten, sie hatte ihm sieben gegeben.
    Ein Wort musste verschwinden.
    Also, dachte Johan und beugte sich über das Papier: Willensstark und professionell? Ja. Sie bekam immer ihren Willen, sie war eine respektierte und angesehene Ärztin. Die Wände ihrer Praxis waren von bunten Kinderzeichnungen bedeckt. Eltern schrieben ihr ständig Karten und bedankten sich. Dennoch nahm sie nicht, wie es heißt, die Arbeit mit nach Hause. Einmal erzählte sie, dass sie sich an die Namen der Kinder, die sie behandelt hatte, nicht mehr erinnerte, nicht einmal an die toten. Johan war überrascht.

    Es habe mit Willensstärke zu tun, sagte sie. Sie wolle sich nicht an die Namen erinnern. Wenn sie sich an alle Namen erinnern würde, der Kinder, die wieder gesund wurden, und der Kinder, die nicht wieder gesund wurden, könnte sie nicht in Frieden leben.
    Hässlich? Nein, nicht hässlich. Aber wenn Mai hässlich sagte, sagte sie es mit einem gewissen Stolz, wohl wissend, dass sie ausreichend souverän war, gerade aufgrund ihrer Hässlichkeit: ihrer langen grauen Haare, ihres Kindergesichts und ihrer großen, fabelhaften Nase. Wäre sie ein winziges bisschen hübscher, wäre sie weitaus weniger attraktiv.
    Wort haltend? Ja. Immer. Mai hielt alle Versprechen und alle Abmachungen. Es käme ihr nicht in den Sinn, ein Versprechen zu brechen, egal wie die Umstände waren.
    Einmal hatte sie Johan versprochen, mit ihm ein neues Restaurant in Oslo zu besuchen, das in den Zeitungen gelobt worden war.
    Als sie das Restaurant betraten und vom Ober empfangen wurden, zeigte sich, dass ihre Namen nicht auf der Liste standen.
    Â»Aber ich habe einen Tisch bestellt«, sagte Mai.
    Â»Bedaure«, sagte der Ober. »Ihr Name steht hier nicht. Vielleicht an einem anderen Abend?«
    Â»Nein«, sagte Mai. »Wir wollen heute Abend hier essen.«
    Â»Aber ...«

    Mai unterbrach ihn. »Wenn Sie einen freien

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