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Gnade

Gnade

Titel: Gnade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linn Ullmann
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Gelächter noch einmal.
    Â»Hexe!«, murmelte er.
    Es war spätabends und Johan wusste, dass er, wenn er den Namen seiner Frau Nummer eins aussprach und überdies noch mit ihr redete, auf dem Weg in die Verzweiflung war. Deshalb beschloss er auf der Stelle, nicht auf den Landsitz nach Värmland zu fahren. Nein. Er würde früh am nächsten Morgen nach Göteborg fahren und Mai überraschen.
    Ãœberraschungen sind nie eine gute Idee.
    Johan war prinzipiell gegen jede Form von Überraschung. Und seine Prinzipien sollte man ernst nehmen. Es war keine gute Idee, nach Göteborg zu fahren, um Mai zu überraschen. Sie trafen sich nicht einmal und Mai erfuhr nie, dass er da gewesen war. Das erfuhr sie nie. Nicht einmal nach seinem Tod. Und vermutlich hat sie das ganze Seminar vergessen. Wenn er sie beispielsweise auf dem Sterbebett gefragt hätte: Mai, weißt du noch, als du vor siebzehn Jahren
mit dem Zug nach Göteborg gefahren bist, um einen Vortrag über Säuglinge und Koliken zu halten, würde sie die Stirn runzeln und den Kopf schütteln. Mais Gedächtnis ist nicht gut. Das Beste, was man über Mais Gedächtnis sagen kann, ist, dass es selektiv ist. Sie erinnert sich an das, woran sie sich erinnern will, und vergisst alles andere. Johan war der Meinung, dies sei eine der Ursachen dafür, dass sie so sicher wirkte und weshalb er, ein unsicherer Mensch, bei ihr zur Ruhe kam. Sie vergisst ganz einfach alles, was sie nicht gerne in Erinnerung behalten will, was ihr nicht vorteilhaft erscheint. Johan vergaß nie etwas. Johan vergaß nichts. Manchmal dachte er, dass das Eitergeschwür in seinem Gesicht, die Druckstellen, die blutigen Öffnungen, alles, was floss und eiterte und pumpte, alles, was seinen Körper in einen unwegsamen Sumpf verwandelte, Erinnerungen an gelebtes Leben waren. Dass er erst am Ende und durch den Schmerz wirklich geworden war.
    Â»Es ist die Hölle, wirklich zu werden«, sagte er.
    Mai allein verstand, was er sagte, als er im Sterben lag, und am Ende verstand auch sie ihn nicht mehr.
    Zu Mai sagte er: »Meine einzige Linderung solltest du sein.«
    Â 
    Johan traf am Vormittag in Göteborg ein. Der Regen prasselte hernieder. Er spazierte zum Hotel, hoffte, dass sie sich noch in ihrem Zimmer befand. Er
wusste, dass sie ihren Vortrag erst am Nachmittag halten sollte, um halb drei, hatte sie gesagt, und Johan ging davon aus, dass sie den Morgen nutzte, um sich vorzubereiten. Bei seiner Ankunft war er durchnässt. Der Regen tropfte ihm von der Nase, von den Augen, von den Augenbrauen, er konnte ihn von den Lippen ablecken, es tropfte von seinem Mantel, der Hosennaht und der Reisetasche, in den Schuhen gluckerte es, das weiße Hemd und die Unterhosen klebten ihm am Körper. Er rief Mai von einer Telefonzelle vor dem Hotel aus an, und die Telefonistin stellte ihn in ihr Zimmer durch. Sie nahm sofort den Hörer ab.
    Sie äußerte sich erfreut darüber, seine Stimme zu hören. Von wo er denn anriefe – ob er auf der Arbeit sei? Ob er gut geschlafen habe ohne sie an seiner Seite im Bett? Sie ließ ihn nicht antworten, redete weiter, sagte, dass ihr vor ihrem Vortrag graue, dass sie Angst habe, das Wichtigste vergessen zu haben.
    Am Ende kam Johan zu Wort und fragte sie, was sie gerade mache.
    Â»Ich schreibe natürlich«, sagte sie, »ich sitze hier und schreibe.«
    Â»Ja, das habe ich verstanden«, unterbrach er sie, »aber in dem Moment, als ich anrief, was hast du da gemacht? Ich will dich vor mir sehen.«
    Sie lachte leise. »Gerade als du angerufen hast oder kurz bevor du
angerufen hast, bin ich aufgestanden, um ins Badezimmer zu gehen. Ich habe mir die Haare gebürstet.« »Hundert Mal?«
    Â»Nein, nur ein paar Mal. Ich habe versucht, mich zu entscheiden, ob ich sie heute Nachmittag aufgesteckt oder offen tragen soll.«
    Â»Offen.«
    Â»Findest du?«
    Â»Ja.«
    Es war schön, merkte er, direkt vor ihrem Hotel zu stehen, während der Regen auf das Dach der Telefonzelle trommelte, in einer Regenpfütze zu stehen, dazustehen und den nassen Telefonhörer festzuhalten, ihre Stimme festzuhalten, das Bild von ihr vor dem Spiegel festzuhalten, die langen, glänzenden Haare, die, wie er sich einbildete, das ganze dunkle Zimmer erleuchten würden, das ganze Hotel, ganz Göteborg.
    Â»Was hast du an?«, fragte er.
    Â»Mein gestreiftes Nachthemd, die

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