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Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)

Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)

Titel: Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Unger
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Stadt zuging, wie sich der Lärm dort ins Bewusstsein bohrte. Hier kann ich denken, hatte ihre Mutter nach dem Umzug in einem provozierend verträumten Ton gesagt. Hier kann ich atmen. Willow wusste, was ihre Mutter meinte, auch wenn sie es nie zugegeben hätte. Wenn ihre Mutter The Hollows lobte, wie hübsch und friedlich es dort sei, wie sauber die Luft, wie nah die Natur, fing Willow zu schmollen an.
    Ist ja schon gut, Mom. Hör auf damit. Diese Stadt ist ein Dreckloch.
    Du könntest dir ein bisschen mehr Mühe geben, Willow.
    Wolken zogen vor die Sonne, und die langen Sonnenstreifen verschwanden. Willow stand im milchig-trüben Licht. Auf einmal sahen die Blätter braun aus. Plötzlich bereute Willow alles – ihren dummen Kommentar im Unterricht, die halbherzige Entschuldigung, die unbedachte Flucht. Nun hatte sie einen Marsch von mehreren Kilometern vor sich, an dessen Ende sie nichts als Ärger erwartete.
    Und dann durchflutete sie eine Angstwelle. Wenn die Schule ihre Mutter benachrichtigte, würde diese sich schreckliche Sorgen machen. Ihre Mom konnte sich furchtbar aufregen, und weil sie Schriftstellerin war, liefen in ihrer Fantasie die entsetzlichsten Szenarien in Technicolor ab – das Letzte, was ihre Mom jetzt gebrauchen konnte.
    Willow kramte ihr Handy aus dem Rucksack. Noch während sie wählte, sah sie, dass sie keinen Empfang hatte. The Hollows war von willkürlichen Funklöchern durchsetzt; von einem Augenblick auf den andern streikten die Handys, einfach so. Jolie hatte erklärt, es liege an den vielen ehemaligen Eisenerz-Minen, deren Tunnel sich unter der Stadt hindurchschlängelten. Willow konnte den Zusammenhang nicht erkennen, aber was verstand sie schon vom Bergbau. Sie verdächtigte die ganze Stadt, sich gegen sie verschworen zu haben, sie zu isolieren und abzudrängen, sie zu quälen und ihr Elend zu verlängern. Es gab hier nicht mal ein Starbucks!
    Sie steckte das Handy wieder ein in der Hoffnung, das Funksignal wäre in ein paar Minuten wieder da. Sie ging schneller. Sie schaute in den Himmel und entdeckte drei riesige Vögel, die ihre Kreise zogen. Sie blieb stehen, um die Tiere zu beobachten, die durch die Luft segelten und kaum einmal mit den Flügeln schlugen. Hier gab es ständig Neues zu entdecken: Rehe auf der Wiese hinter dem Haus, Hasen, Blauhäher, Kardinale, Krähen. Auch das gefiel ihr an The Hollows. Natürlich konnte das Schöne – die Ruhe, die Stille, die wilden Tiere – die Nachteile nicht aufwiegen.
    Noch während sie in den Himmel starrte, wurde ihr ein Geräusch aus der Ferne bewusst, das sie schon seit einer Weile hörte. Eine Art rhythmisches Klopfen, so gedämpft und regelmäßig, dass sie es kaum wahrgenommen hatte. Willow sah sich nach der Geräuschquelle um, aber der Krach schien direkt aus der Erde zu kommen. Oder vom Himmel? Manche Grundstücke grenzten direkt an den Wald, und der Schall trug hier draußen weit.
    Jolie hatte ihr erzählt, dass die alteingesessenen Bewohner die riesige, bewaldete Fläche den Schwarzwald nannten. Offiziell hieß er anders, aber die deutschen Siedler, die als erste hier angekommen waren, hatten ihre Traditionen mitgebracht. Der Schwarzwald war der Ort, an dem ihre Märchen spielten. Er war voller Hexen, Knusperhäuschen und großer, böser Wölfe. Angeblich hatte der Wald von The Hollows die Einwanderer an die alte Heimat erinnert, und der Spitzname hatte sich bis heute gehalten.
    Am Waldrand standen ein paar großzügige Neubauten auf riesigen Grundstücken. Eines dieser Häuser gehörte Willows Mutter. »Damit die Städter denken, sie würden mitten in der Natur leben«, hatte Jolie gesagt. Es klang, als hätte sie das irgendwo aufgeschnappt und wiederhole es nur, weil sie es so cool fand. Willow fragte sich, ob Jolie wusste, dass sie in einem der Häuser wohnte. Ob Jolie stichelte. Abgesehen davon war Jolie noch nie in New York gewesen und hatte von Städtern absolut keine Ahnung. Aber Willow sagte nichts, denn Jolie war ihre einzige Freundin.
    Ein Teil des Waldes gehörte alteingesessenen Familien, die in windschiefen Holzhäusern im Nirgendwo wohnten. Wenn es im späten Herbst zu schneien anfing, wurden die Straßen unpassierbar, und ein Teil der Bevölkerung von The Hollows, darunter auch Kinder, blieb monatelang verschwunden. All das hatte Jolie erzählt, ihre kiffende, vom Unterricht ausgeschlossene Freundin mit den deutschen Vorfahren, deren Familie seit vier Generationen in The Hollows ansässig war und zu den

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