Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
haben, wenn wir beide wie Käfer in einem Smart zu Tode gequetscht werden.
Übertreib nicht so. Du kannst einfach nicht Auto fahren.
Halt den Mund, Willow.
Auf der Fahrt zur Schule wählte Bethany zwei Mal die Nummer von Willows Handy. Niemand meldete sich. Bethanys Aufregung, Todesangst und Wut steigerten sich mit jedem Meter, den sie auf der gewundenen, schmalen, sechs Kilometer langen Strecke zur Schule zurücklegte – einmal hin und dann wieder zurück.
Wo steckte Willow? In dieser Stadt konnte man nicht einfach irgendwo hingehen, das wusste auch Willow. Bethany hatte gedacht, genau das würde ihnen guttun – ein ruhiger, friedlicher Wohnort. Hatte sie nur an sich gedacht? An das, was sie selbst vermeintlich brauchte? Vielleicht hatte Willow recht, und die Entscheidung, von Manhattan nach The Hollows zu ziehen, war alles andere als gut durchdacht gewesen.
Als sie wieder zu Hause ankam, war Bethany überzeugt, Willow auf dem Sofa vorzufinden, in der einen Hand die Fernbedienung und die andere in einer Chipstüte. Aber nein, das Haus war leer. Bethany spürte, wie ihre Angst die Räume erfüllte, und bang lauschte sie in die Stille hinein – keine Polizeisirenen, kein Hupen, kein Verkehrsrauschen, kein elektrisches Brummen, keine quietschenden Aufzüge und donnernden U-Bahnen.
Sie stieg die knarzende, extravagant geschwungene Holztreppe hinauf, die auf einen Flur führte.
»Willow!«, rief sie unsinnigerweise.
Sie ging durch den langen Flur und schaute in die vielen Zimmer, in denen sich immer noch die Umzugskisten stapelten. Sie hatte von diesen Räumen geträumt – hier wollte sie einen Trainingsraum einrichten, dort eine Bibliothek. Im Keller wollte sie eine Beamer-Leinwand aufhängen. Aber nun erschienen ihr die Pläne, die ihr in ihrem New Yorker Apartment beim Kistenpacken so aufregend vorgekommen waren, verstiegen und undurchführbar – wenn nicht gar naiv und dumm. Jedes dieser Vorhaben würde Monate dauern und Tausende von Dollar verschlingen.
Alle denken, es wäre so romantisch, aufs Land zu ziehen. Oh, die Stille und die Einsamkeit! Und dann … Der ungebetene Kommentar ihres guten Freundes und Agenten Philip May.
Und dann was?
Und dann wohnt man auf dem Land. Und, oh Gott, diese Stille, diese Einsamkeit!
Sie stieß die Tür zu Willows großzügig geschnittenem Zimmer auf und wunderte sich, wie viel Krempel sich in der kurzen Zeit, die sie hier wohnten, angesammelt hatte. Willows Kleiderschrank war so voll, dass die Tür sich kaum noch schließen ließ. Aus den aufgerissenen Schubladen quollen Socken, T-Shirts, Strumpfhosen und Unterwäsche. Überall stapelten sich Bücher, und neben dem riesigen Fernseher stand ein DVD -Turm. Willows Schreibtisch samt Computermonitor war unter Papierbergen, Zeitschriften, Fotoalben und Skizzenbüchern versunken. Sie hatte die alte Unordnung aus ihrem kleinen Zimmer in Manhattan hierher verfrachtet, und nun war das Chaos offenbar dabei, sich an den größeren Raum anzupassen.
Bethany ließ sich auf Willows Bett sinken und unterdrückte den Impuls, in den Sachen der Tochter zu schnüffeln. Im selben Moment setzten die Fantasiebilder ein. Willow allein in einem Zug nach New York City. Willow beim Kiffen im Wald mit Jolie oder, noch viel schlimmer, mit einem fremden Jungen. Bethany sah geradezu vor sich, wie Willow sich mit einem gepiercten, tätowierten Jungen im Laub wälzte. Und dann wurde es ernst: Eine wütende, verletzliche Willow steigt zu einem Fremden ins Auto. Bethany sah zwei große, muskulöse Männerhände, die das Lenkrad umklammert hielten. Wo willst du hin?, fragte er ihre Kleine. Was würde Willow antworten? Aber das wäre ohnehin egal, denn der Fahrer des imaginären Autos würde sich nicht dafür interessieren, wohin Willow wollte, ihn würde nur interessieren, wohin er sie verschleppen könnte. Im nächsten Bild stürzte Willow in einen der Minenschächte, von denen Bethany schon so oft gehört hatte. Trotzig und unglücklich war sie durch den Wald marschiert, den iPod auf voller Lautstärke, als der Boden unter ihren Füßen einfach nachgegeben hatte. Willow lag allein im Dunkeln, verletzt und traurig. Bethany hätte die Geschichte in allen Details schildern können – die Fahndung, die Hotline, die tränenreiche Pressekonferenz. Sie konnte jetzt schon den Kummer und die Angst fühlen. In Windeseile durchschritt sie die sieben Phasen der Trauerarbeit.
Ihre lebhafte Fantasie, die ihr bei der Arbeit so hilfreich war, erwies sich, hatte
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