Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
dem Rücksitz eines Streifenwagens gesehen. Zum ersten Mal wirkte er nicht gehetzt. Manchmal war ein Geständnis wie eine Teufelsaustreibung.
»Du weißt es schon?«, fragte Ray.
»Die Wahrheit über Michael?«, sagte sie. Als Ray nicht antwortete, fügte sie hinzu: »Ja, ich weiß es.«
»Du hast es immer gewusst, nicht wahr?«
»Ich habe es vermutet.«
»Sie hat es dir gesagt.« Er sprach von Marla. Er war der Einzige, der an Eloise glaubte.
»Sie hat es angedeutet.«
Seine Hände wanderten über ihre Arme, und Eloise spürte, wie sie sich am ganzen Körper entspannte.
»Eloise, du hast einen furchtbaren Beruf.«
Da war sie sich nicht sicher. Der Tod gehörte zum Leben dazu. Vielleicht markierte er, anders als die meisten Leute glaubten, keinen Endpunkt. Vielleicht markierte er etwas Schlimmeres? Die Menschen taten einander unaussprechliche Grausamkeiten an. Es gab so viel Leid. Und dennoch war es nur ein kleiner Ausschnitt dieses fantastischen, hässlichen, chaotischen und wunderschönen Mosaiks, an dem jeder Mensch von seinem ersten bis zum letzten Atemzug teilhatte. War es nicht in gewisser Hinsicht ein Geschenk, so viele Farben, so viele scharfkantige Steine und Steinchen bewundern zu dürfen, auch jene, von denen alle anderen sich abwandten? Der Kabbala zufolge ist jede menschliche Seele nur ein Mosaiksteinchen der großen Weltseele, ein winziges Stückchen Kosmos, das mit allen anderen in Verbindung steht. Die Vorstellung gefiel Eloise, denn sie spürte, dass sie zutreffen könnte. Damit näherte sich Eloise dem Glauben so weit an, wie es ihr möglich war.
»Tja«, sagte Ray, als sie nicht antwortete, »ich war noch nie in Seattle.« Er räusperte sich. »Soll ganz nett sein. Viel Regen, aber guter Kaffee.«
Und zum ersten Mal seit ewigen Zeiten lächelte Eloise.
SIEBENUNDDREISSIG
W ie erwartet sah Claudia Miller sie vor ihrem Haus parken. Sie hatte es gewusst, seit sie das »Zu verkaufen«-Schild im Nachbargarten entdeckt hatte. Zuerst nur ein einsamer Streifenwagen. Dann ein schwarzes Zivilfahrzeug. Dann folgten weitere. Die Nachbarn, Leute mit lauten, frechen Kindern, wagten sich auf ihre Veranda, um zu glotzen. Claudia fühlte die Spannung, die in der Luft lag. Keiner war ans Fenster gekommen, als die Sanitäter Mack abholten. Niemand hatte mit ihr am Rettungswagen gestanden und zugeschaut, wie er über den überwucherten Gartenpfad geschoben und in den Van bugsiert wurde. Niemand interessierte sich dafür, dass ein alter Mann sein Haus zum letzten Mal im Leben verließ.
Alle Nachbarn waren herausgekommen, einige standen sogar auf der Straße. Schließlich sprach der Rechtsanwalt von gegenüber (der einen schicken Mercedes fuhr und abends, wenn er den Müll rausbrachte, heimlich eine Zigarette rauchte) einen der Polizisten an, die in der Einfahrt warteten.
»Was geht hier vor sich, Officer?« Seine Stimme durchschnitt die bitterkalte Luft. Alles wirkte so still, seit der Regen nicht mehr aufs Dach und gegen die Fensterscheiben trommelte.
Der Polizist winkte kopfschüttelnd ab. Claudia konnte seine Antwort nicht verstehen.
»Wir haben ein Recht, es zu erfahren«, sagte der Anwalt. Claudia wusste, er reagierte beleidigt, wenn er seinen Willen nicht sofort bekam. Sie wusste, warum die Polizei gekommen war. Sie wusste eine Menge.
Sie wusste, dass die hübsche Blondine (wie alt war sie? Siebzehn vielleicht?) nachts mit Hilfe einer Strickleiter, wie manche Leute sie für den Notfall unter dem Bett liegen haben, aus dem Fenster kletterte. Ihr Freund holte sie an der Ecke ab und brachte sie Stunden später zurück.
Claudia wusste, dass die vollbusige Frau aus der Nummer 180 eine Affäre hatte. Sie war eine erfolgreiche Immobilienmaklerin, die den ganzen Tag herumschwirrte wie eine fleißige Biene, die den Honig nach Hause trägt. Aber an jedem Mittwochmittag empfing sie Herrenbesuch. Claudia beobachtete, wie die beiden ganz beiläufig im Haus verschwanden. Der Mann der Maklerin kam manchmal erst gegen Mitternacht von der Arbeit zurück.
Claudia wusste, dass die Katze namens Misty nicht entlaufen war, auch wenn es auf den traurigen Zetteln, die im Supermarkt und an allen Laternenpfählen aushingen, so stand. Sie war aus dem Haus entwischt, als die Frau aus Nummer 183 die Post hereingeholt hatte. Sie wurde von einem Auto angefahren, schleppte sich auf den Bordstein und verendete dort. Später kam die Frau aus dem Haus, fand die tote Katze und weinte. Sie nahm die kleine Leiche vorsichtig auf den
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