Gnadenthal
hinter den Dünen, keine hundert Meter vom Strand entfernt, und es hatte einen riesengroßen Garten mit knorrigen, Schatten spendenden Bäumen. Die Betten waren schmal, die Matratzen klumpig, aber nach dem allabendlichen ausgiebigen Weingenuss hatte ihnen das wenig ausgemacht. In den Dünen wuchsen jede Menge Brombeersträucher, die dicke, reife Beeren trugen. Er hatte einen neuen Crêpe erfunden, nun ja, zumindest die dünnsten Pfannkuchen gebacken, die man in der Alupfanne mit verbeultem Boden hinkriegen konnte: bestrichen mit einem Hauch Crème fraîche, belegt mit Pfirsichschnitzen – auf dem Markt in Concarneau gab es für wenig Geld herrliches Obst – und den frisch gepflückten, in Butter und Zucker sautierten Brombeeren, darüber geraspelte Schokolade. Mindestens zweimal in der Woche hatte er seine Kreation auftischen müssen.
Und abends ‹Sangria blanc›. Keiner von ihnen hatte viel Geld gehabt, und guter Rotwein war teuer, aber sie hatten im Supermarkt einen ganz ordentlichen Weißwein entdeckt, und Johanna hatte daraus mit Apfelsinen, Zitronen, viel Zucker und einem großzügigen Schuss Rum eine Sangria gemixt, ein Gebräu, das er heute sicher nicht mehr anrühren würde, das aber damals zu ihrer Sommerlaune gepasst hatte.
Johanna … er war ziemlich verknallt in sie gewesen, aber zu mehr als trunkenen Knutschereien auf der Wiese unterm Sternenhimmel war es nicht gekommen.
Es war ein phantastischer Sommer gewesen, den ganzen August hindurch nur Sonnentage, die sie träge am Strand verbrachten. In den Dünen hatten sie eine geschützte Mulde entdeckt, wo die Mädels ihre Bikinioberteile ablegen und sich brutzeln lassen konnten. Nur Dagmar hatte die Sonne gemieden, war blass und zerbrechlich und sehr still gewesen, und oft sah sie so aus, als hätte sie geweint. Außer ihm war das niemandem aufgefallen, nicht einmal Rüdiger. Der war total aus dem Häuschen gewesen, weil Dagmar und er endlich den Heiratstermin festgelegt hatten.
Wenn sie alle beim Abendbrot saßen, sonnentrunken, aber noch nicht im Sangrianebel, und gerade nicht über die Probleme in ihren jeweiligen WGs oder den Weltfrieden diskutierten, hatten sie die Hochzeitsfeier geplant: alternativ, ohne Kirche, ein rauschendes Fest mit Folkmusik und Kabarett und, bitte, keine krummbucklige Verwandtschaft, höchstens die Eltern. Mit steigendem Alkoholpegel waren die Pläne immer kühner geworden. Und Dagmar hatte dazu gelächelt und gelächelt.
Er ertappte sie schließlich auf dem Klo, wo sie sich die Seele aus dem Leib kotzte.
«Was ist los mit dir?»
«Nix, lass mich in Ruhe!»
«Komm hoch, hier, wisch dir den Mund ab.»
«Lass mich!» Ihr Gesicht war schweißnass.
Er nahm sie in die Arme, drückte ihren Kopf an seine Schulter. «Komm, wir gehen runter zum Strand. Die sind alle so besoffen, die kriegen eh nichts mehr mit.»
Da hielt sie sich nicht länger zurück. Ihre Schluchzer waren wie Würgen, und als sie endlich ein bisschen ruhiger wurde, war sein T-Shirt nass, und sie konnte kaum noch aus den Augen schauen.
«Komm!» Es war Vollmond, aber der Weg war uneben, sie stolperten, und sie riss sich die Hand am Brombeergestrüpp auf. Er lutschte das Blut weg, und sie fing wieder an zu weinen. Aber dann hatten sie es geschafft und ließen sich in den Sand fallen.
«Was ist los mit dir?»
Sie zuckte die Achseln und blickte ins Leere.
«Du willst gar nicht heiraten, oder?»
«Was?» Dann lachte sie zitternd auf.
Er zog sie zwischen seine Beine, ihr Rücken an seinem Bauch, und knetete ihre Hände. Sie ließ die Schultern fallen und senkte den Kopf.
«Ich hatte eine Abtreibung.»
Er war völlig vor den Kopf gestoßen, bekam kein Wort heraus, fand den Sinn nicht.
«Es war Frieders Kind.»
Die Brandung war auf einmal unerträglich laut. «Dagmar …»
Sie riss sich los und fuhr zu ihm herum, Tränen und Rotz im Gesicht.
«Ja!», brüllte sie. «Ja, stell dir vor, ich war mit Frieder zusammen! Und nicht nur einmal!»
Er gab nur Blödsinn von sich: «Aber … Rüdiger … die Hochzeit … abgetrieben … Frieder? Das ist doch alles nicht wahr!»
Sie rückte von ihm weg und wischte sich mit den Händen das Gesicht ab.
«Doch, schon seit über einem halben Jahr. Und Rüdiger … es wär mir egal gewesen, wenn … Oh, Scheiße!» Sie schaute ihn an und seufzte, dann legte sie den Kopf in seinen Schoß.
Ihm war immer noch ein wenig schwindelig, aber er fing an, ihre Stirn zu streicheln. «Erzähl.»
«Es war …
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