Godspeed Bd. 2 - Die Suche
und jedes Problem ist ein bisschen schlimmer als das vorherige.
Bartie mustert mich. Es besteht kein Zweifel: Sein Blick drückt Verachtung und Verärgerung aus, obwohl seine Stimme freundlich bleibt. »Warum übernimmst du nicht das Kommando? Wieso sorgst du nicht für Ordnung? Der Älteste war zwar ein Widerling, aber als er noch das Sagen hatte, brauchte man sich wenigstens nicht zu überlegen, wie man den Tag übersteht.«
»Ich tue, was ich kann«, protestiere ich.
»Das ist nicht genug!« Die Worte hallen im Raum und treffen mich hart.
Ohne nachzudenken, schlage ich mit der Faust auf den Tisch. Das Geräusch erschreckt Bartie, und ich bin selbst so verblüfft, dass ich meinen Ärger vergesse. Ich schüttele meine Hand. Der Schmerz kribbelt bis in den Unterarm.
»Was liest du da?«
Als ich aufschaue, treffen sich unsere Blicke. Wir sind Freunde – auch ohne Harley sind wir immer noch Freunde. Und obwohl das Schiff in letzter Zeit kein besonders freudvoller Ort war, können wir uns doch an unsere gemeinsame Vergangenheit halten.
Bartie hält das schmale Buch so, dass ich den Titel lesen kann: Der Staat von Plato.
»Das habe ich letztes Jahr gelesen«, sage ich. »Aber ich fand es total unverständlich. Dieser Teil über die Höhle ergibt überhaupt keinen Sinn.«
Bartie zuckt mit den Schultern. »Ich lese den Teil über die Aristokratie.« Er sagt »Aristoh-kratie«. Der Älteste hat mir beigebracht, dass es »Ah-risto-kratie« heißt, aber wahrscheinlich hat er sich geirrt, und außerdem macht es auch keinen Unterschied.
Ich kenne den Abschnitt, den Bartie meint, sehr gut, denn er war die Grundlage der Unterrichtsstunde, die der Älteste für mich vorbereitet hatte. Eigentlich wollte er mir damit erklären, wie das System der Ältesten funktioniert. »Ein Aristokrat ist jemand, der zum Herrschen geboren ist«, sage ich. »Jemand, der die angeborene Begabung hat, alle anderen anzuführen.«
Ich frage mich, ob Bartie wohl dasselbe denkt wie ich: dass ich nur aus dem Grund zum Herrschen geboren wurde, weil man mich als Embryo aus einer Röhre mit anderen genetisch manipulierten Klonen gefischt hat, deren DNA so modifiziert worden ist, dass sie die perfekten Anführer abgeben.
»Aber selbst Plato sagt, dass der Idealzustand der Aristokratie dem Zerfall ausgesetzt sein kann«, sagt Bartie.
Das Wort Zerfall erinnert mich an die Entropie, die Marae erwähnte, daran, wie alles immer mehr außer Kontrolle gerät. Inklusive des Schiffs. Inklusive mir.
»Ein Ältester ist wie ein Aristokrat«, sagt Bartie. Er sieht mir in die Augen, als wollte er seinen Worten eine tiefere Bedeutung verleihen. Ich reiße meine Gedanken von unserem maroden Antrieb und Maraes Lügen los und konzentriere mich wieder auf unser Gespräch.
»Aber das Ältesten-System zerfällt nicht«, sage ich. »Es funktioniert.«
»Du bist nicht der Älteste«, gibt Bartie zu bedenken. »Du bist immer noch Junior.«
Ich schüttele den Kopf. »Aber nur dem Namen nach. Ich kann auch regieren, ohne den Titel zu tragen.«
»Titel verwirren mich.« Bartie nimmt wieder das Buch in die Hand und betrachtet den Umschlag. »Dieses Buch spricht von Aristokratie und Tyrannei, als wären es zwei verschiedene Dinge, aber ich sehe keinen Unterschied zwischen beidem.« Er schiebt das Buch über den Tisch. »Es gibt aber auch andere Regierungsformen.«
»Was meinst du damit?«, frage ich misstrauisch.
Bartie steht auf und ich ebenfalls. »Du musst nicht alles allein machen«, sagt er. »Sieh dir doch an, was Sache ist. Auch wenn du der Aristokrat dieses Schiffs bist, der geborene Anführer – du bist sechzehn Jahre alt. Vielleicht wirst du eines Tages ein großer Anführer werden …«
»Wieso werden?«, frage ich gereizt.
Er zuckt mit den Schultern. »Jetzt respektieren die Leute dich noch nicht. Vielleicht in fünf oder zehn Jahren.«
»Die Leute respektieren mich als der, der ich bin!«
Bartie wirft das Buch auf den Tisch. Er geht auf die Tür zu und drängt sich dabei grob an mir vorbei. »Du hast uns alle die Chance zum Denken gegeben, die Chance, selbst zu entscheiden, was wir wollen.« Seine Stimme ist leise, fast nur noch ein Flüstern. » Das respektiere ich. Aber dir muss auch eines klar sein: Wenn wir die Gelegenheit haben, darüber nachzudenken, werden wir dich vielleicht nicht als unseren Anführer wählen.«
Bartie nimmt zwei Bücher mit – die Geschichte der Französischen Revolution und eines aus der Wissenschaftsbibliothek:
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