Godspeed Bd. 2 - Die Suche
etwas in einer Ecke.
Anfangs ist es nur ein Schatten, der über den Boden huscht.
Und dann …
»Das bin ich«, flüstert Junior.
Ich werfe ihm einen kurzen Blick zu, weil seine Stimme plötzlich so schrill und besorgt klingt.
»Lass uns – äh. Lass uns das nicht ansehen. Ich finde, wir sollten das nicht sehen.« Er streckt die Hand aus, um das Video zu stoppen, aber ich bringe das Gerät hastig aus seiner Reichweite.
»Warum nicht?«, frage ich streng.
Junior beißt sich auf die Lippe und sieht total panisch aus.
Der Junior auf dem Bildschirm schleicht weiter vorwärts. Das Video ist ohne Ton, was es noch merkwürdiger aussehen lässt, wie er plötzlich stehen bleibt, als hätte er etwas gehört. Einen Moment später wendet er sich der viereckigen Tür zu, die aussieht wie im Leichenschauhaus. Er öffnet sie und zieht die Trage heraus.
Und dann sehe ich nicht mehr Junior an, sondern mich .
Das bin ich , in einem Eisblock. So still. Ich sehe tot aus. Entsetzen durchfährt mich. Das ist mein Körper. Ich bin nackt. Und da ist Junior, der sich meinen nackten Körper ansieht.
»Junior!«, kreische ich und verpasse ihm eine Kopfnuss.
»Da kannte ich dich noch nicht!«, verteidigt er sich.
»Ich wusste nicht, dass du ein solcher Spanner bist!«, fauche ich ihn an.
»Tut mir leid!« Junior zieht den Kopf ein.
Der Junior auf dem Bildschirm schaut plötzlich auf, was unsere Aufmerksamkeit wieder auf das Video lenkt. Aber nachdem er eine Weile gehorcht hat, sieht mich der Film-Junior wieder an. Er hebt eine Hand – ich bemerke, dass sie ein wenig zittert – und legt sie auf den Glaskasten, ungefähr an der Stelle, wo mein Herz ist. Dann zuckt er zusammen – offenbar durch ein Geräusch erschreckt – und rennt aus dem Bild.
»Du hast mich einfach liegen gelassen?«, frage ich. Ich weiß, dass er es getan hat, denn er hat es mir längst gebeichtet – aber es ist etwas anderes, mich so zu sehen. So hilflos.
Junior sieht aus wie ein Häufchen Elend. Er schaut nicht auf den Bildschirm, sondern beobachtet nur mich, und sein Gesichtsausdruck scheint mir zu sagen, dass ich endlich anfangen soll, ihn zu schlagen, damit wir es hinter uns haben.
Aber ich bin nicht mehr wütend auf ihn … jedenfalls weniger wütend als vielmehr traurig. Und etwas angewidert. Ich weiß nicht, wie ich den ekligen Geschmack in meinem Rachen in Worte fassen soll, deshalb sage ich gar nichts und sehe mir nur weiter das Video an.
Mehrere Minuten lang geschieht nichts. Ich beobachte ein dünnes Rinnsal Kondenswasser, das von meinem Glassarg auf den Boden tropft. Ich schmelze bereits.
Plötzlich will ich das nicht mehr sehen. Ich will nicht sehen, wie ich aufwache. Ich kann das Ertrinken in der Gefrierflüssigkeit und das Ersticken an den Schläuchen in meinem Hals nicht noch einmal ertragen. Ich schließe die Augen und wende mich ab, obwohl mein Video-Ich noch sehr viel länger brauchen wird, um vollständig aufzutauen. Aber dann schnappt Junior erstaunt nach Luft und mein Blick fliegt zurück zum Bildschirm.
Es ist ein weiterer Schatten aufgetaucht, breiter und größer, und er schleicht langsam auf mein gefrorenes Ich zu. Ein Lichtstrahl fällt auf seine Halsseite, wo sich spinnwebförmige Narben bis hinter sein linkes Ohr erstrecken.
Orion.
Zuerst schiebt er mich wieder in meine Gefrierkammer. Er schlägt die Tür zu und wendet sich zum Gehen.
Doch dann zögert er.
Eine Weile starrt er in dieselbe Richtung, in die Junior verschwunden ist, und trommelt dabei nachdenklich mit den Fingern gegen die Tür des Kryo-Fachs. Dann zieht er mich langsam und gezielt wieder aus der Kammer. Einen Moment lang sieht er auf mich herab.
Und dann geht er weg.
Orion hat gesagt, dass er auf die Idee gekommen ist, die Eingefrorenen zu töten, als er zugesehen hat, wie Junior mich aufgetaut hat. Das war der Moment, in dem er erkannt hat, wie leicht es ist, Leute umzubringen, die sich nicht wehren können.
Weißes Rauschen füllt den Bildschirm.
»Deswegen hat er die Kameras auf dem Kryo-Deck zerstört«, sagt Junior.
Es ist zumindest einer der Gründe.
Junior legt den Videoschirm auf meinen Tisch und steht auf. Das Haar fällt ihm ins Gesicht, aber ich merke trotzdem, wie er mich ansieht. Er wartet auf meine Reaktion.
Aber ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich weiß auch nicht, was ich fühlen soll. Wie Junior mich angesehen hat und wie Orion es nicht getan hat. Damit ist mein Gehirn überfordert.
»Amy?«
Junior schreckt hoch
Weitere Kostenlose Bücher