Godspeed Bd. 2 - Die Suche
Kaninchenloch.
»Du glaubst, er hat etwas auf der Kaninchenweide versteckt?«, frage ich voller Zweifel. Schließlich graben Kaninchen keine Löcher, sondern machen Nester – sie sind größer als die Kaninchen von der Sol-Erde und sehen mehr wie Hasen aus.
»Kann sein«, sagt sie. »Vielleicht bezieht er sich aber auch auf ein weiteres Buch.«
Ah. Schon kapiert. Ich bin doch nicht blöd. Sie weiß bestimmt längst, welches Buch es ist.
Aber wenn sie Freiraum braucht, kann ich ihr den gern geben, auch wenn der Raum zwischen uns für meinen Geschmack schon viel zu groß ist.
Ich sehe zu, wie Amy sich schweigend auf die Begegnung mit den Menschen außerhalb ihres Zimmers vorbereitet. Sie wickelt sich einen langen dünnen Schal um die Haare und verknotet ihn. Mit einer Hand lässt sie ihre Halskette mit dem Kreuz unter der Tunika verschwinden und greift mit der anderen nach einer Kapuzenjacke. Das alles geht so schnell, als hätte sie es schon viele Male getan. Ich hasse es, dass es schon zur Gewohnheit für sie geworden ist, zu verbergen, wer sie ist. Aber ich sage ihr auch nicht, dass sie es lassen soll.
Wir sprechen erst wieder auf dem Pfad zum Archiv miteinander. »Bist du sicher, dass ich nicht mitkommen soll?«, frage ich.
»Ja, bin ich«, sagt sie. Ich weiß nicht genau, ob sie so leise spricht, weil sie Angst hat. Was immer es ist, sie verrät es mir nicht, denn sie scheint entschlossen, allein damit fertig zu werden.
Amy geht auf das Archiv zu, und ich sollte eigentlich nach links gehen und nach Kaninchenlöchern suchen, obwohl wir beide wissen, dass Orions nächster Hinweis vermutlich in dem Buch steckt, an das sie denkt. Sie sieht so … niedergeschlagen aus, mit der tief ins Gesicht gezogenen Kapuze, den hängenden Schultern und dem gesenkten Blick.
»Nein.« Mit ein paar großen Schritten bin ich an ihrer Seite und halte sie am Ellbogen fest.
»Nein?«, fragt sie.
»Ich weiß, dass du immer noch wütend auf mich bist«, beginne ich.
»Nein, eigentlich nicht.«
»Du bist es und das ist in Ordnung. Ich verdiene es. Und ich weiß, dass du beweisen willst, wie stark du bist, dass du mich nicht brauchst, aber es gibt keinen Grund, wieso wir uns trennen sollten. Du bist einfach nur stur.« Ich verstumme kurz und senke die Stimme. »Ich weiß auch, dass es etwas gibt, das du mir nicht sagen willst. Schön, behalte deine Geheimnisse für dich. Aber was immer es ist, es macht dir Angst, und ich werde dich nicht ängstlich und allein losziehen lassen. Also bleibst du bei mir und ich bleibe bei dir.«
Amy macht den Mund auf, um zu protestieren.
»Keine Widerrede«, sage ich streng.
Und zum ersten Mal seit langer Zeit zeigt sich ihr Lächeln wieder in ihren Augen.
Wir gehen zuerst zur Kaninchenweide, obwohl ich ziemlich sicher bin, dass Amy davon überzeugt ist, dass die Lösung im Archiv zu finden ist. Nach meinem Ausbruch reden wir nicht mehr, aber irgendwie ist es eine Art einvernehmliches, freundschaftliches Schweigen. Es ist nicht unangenehm oder peinlich – wir schlendern einfach nebeneinander den Pfad entlang.
Kurz bevor der Pfad um eine Kurve führt, verengt er sich und wir bewegen uns gleichzeitig zur Mitte des Wegs. Dabei berühre ich sie aus Versehen. Ich ziehe meine Hand schnell weg und stecke sie in die Tasche, damit das bloß nicht noch einmal passiert. Ich werfe Amy einen Blick zu, weil ich wissen will, ob sie etwas gemerkt hat, und im selben Moment schaut sie zu mir auf. Sie lächelt, ich lächle und sie knufft mich mit der Schulter und ich knuffe sie mit der Schulter, und dann lachen wir beide, ohne dabei einen Laut von uns zu geben.
Dann hüpft ein Kaninchen über den Weg.
»Das ist merkwürdig«, sage ich. »Wie ist das rausgekommen?«
»Der Zaun ist kaputt«, stellt Amy fest und zeigt auf die Stelle, wo der dünne Maschendraht vom Pfosten gerissen und niedergetrampelt wurde. Die beschädigte Stelle ist gerade groß genug, dass ein Mann hindurchgehen kann.
»Glaubst du, dass etwas passiert ist?«, flüstert Amy.
Ich antworte nicht. Das ist nicht nötig. Der Körper, der mitten auf der Weide liegt, ist Antwort genug.
18
Amy
Auf der Kaninchenfarm habe ich zum ersten Mal echtes Entsetzen verspürt. Es war nicht nur Angst – ich hatte schon oft in meinem Leben Angst, sowohl auf diesem Schiff als auch auf der Erde. Aber was blankes Entsetzen ist, weiß ich erst, seit ich in die Augen dieses Mädchens auf der Kaninchenfarm gesehen und erkannt habe, dass es innerlich
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