Godspeed Bd. 2 - Die Suche
Nicht, bis –
Mein Blick wanderte von der Leiche zur nahezu reglosen Wasseroberfläche. Und dann weiter zu den Seerosen und dem Riedgras auf der anderen Seite und über den frischen grünen Rasen.
Und dann traf mein Blick auf die Metallwand.
Eine harte, kalte unnachgiebige Metallwand, durch Nieten zusammengehalten, alt und verschmutzt. Mit brennenden Augen folgte ich einer Schweißnaht aufwärts bis zur grellen Solarlampe in der Mitte der Decke. Darüber befand sich, wie ich wusste, das Technikdeck und darüber das Regentendeck.
Und über diesen beiden – über Tonnen und Abertonnen undurchdringlichen Metalls – war ein Himmel, den ich nie gesehen hatte.
Ein Himmel, den auch Kayleigh nie gesehen hatte.
Und ohne diesen Himmel konnte sie nicht leben.
22
Amy
Junior beendet seinen Bericht, als wir die Stadt erreichen. Ich würde gern etwas Tröstendes sagen, aber diese Sache ist schon Jahre her, und außerdem gibt es nichts, das ich sagen könnte.
Ich war noch nie so tief in der Stadt. Das ganze Versorgerdeck sieht jetzt, mitten am Tag, irgendwie anders aus, obwohl die Solarlampe zu dieser Tageszeit genauso hell leuchtet wie morgens, als ich noch gerannt bin – die unechte Sonne wandert nicht über den Himmel und färbt den Horizont nicht rosa, orange und blau.
Die Stadt ist viel größer, als es vom anderen Ende des Versorgerdecks den Anschein hat. Wenn ich sie vom Krankenhaus oder dem Archiv aus betrachte, sieht sie aus, als wäre sie aus Legosteinen erbaut. Die Gebäude bestehen aus aufeinandergestapelten bunten Bauklötzen, und die Menschen sind so winzig, dass man sie kaum sehen kann.
Aber aus der Nähe sieht das anders aus. Die Straßen sind voller Menschen. Männer – und ein paar Frauen – ziehen schwere Handwagen durch die gepflasterten Straßen, als wären die Dinger federleicht. Grünzeug, Fleisch, Kisten, Stoffballen – alles saust von einer Straße in die nächste. Es ist lauter, als ich erwartet habe. Die Leute unterhalten sich über die Straße hinweg; an einer Ecke schreit sich ein Paar an und beide wedeln dabei wild mit den Armen. Ich rieche Rauch und fürchte schon, dass etwas Schlimmes passiert ist, aber nein – er steigt nur von einem Grill auf.
Die Stadt ist auch viel chaotischer als erwartet. Hier sind so viele Leute . Und zum ersten Mal sehe ich sie als Individuen, von denen jedes seine eigene Geschichte hat. Ich versuche, mir vorzustellen, wie sie leben. Der Mann hinter dem Fenster, der einen Eisenhaken in ein Rinderviertel schlägt. Ist er gelangweilt oder reagiert er mit dem brutalen Angriff auf das Fleisch seine Wut ab? Das Mädchen, das an einem der Gebäude lehnt, und sich Luft zufächelt – wieso hat sie ihre Wohnung verlassen, nur um draußen herumzustehen? Worauf wartet sie?
Und was werden sie alle tun, wenn sie die Wahrheit herausfinden? Was wird von der Stadt übrigbleiben, wenn sie erfahren – was sie ganz sicher irgendwann tun –, dass sich die Godspeed nicht mehr vom Fleck bewegt?
Ich halte den Kopf gesenkt, weil ich diesen Leuten, die sich so schnell gegen mich wenden können, nicht traue, aber Junior begrüßt sie mit einem Lächeln. Er scheint hier jeden zu kennen und alle lächeln zurück.
Ihr Lächeln verschwindet jedoch, sobald ihr Blick auf mich fällt. Sie zischen »Freak«, aber so leise, dass Junior es nicht mitbekommt. Ich streife mir die Kapuze wieder über die Haare und achte darauf, dass sie vollständig darunter verborgen sind.
»Harleys Familie lebt im Weberviertel«, sagt Junior. »Das ist in der Stadtmitte.«
Jeder Wohnblock ist danach benannt, womit sich seine Bewohner beschäftigen. Wir müssen gerade im Schlachthausviertel sein – es hängt der Geruch von Blut in der Luft, vermischt mit einem Hauch von ranzigem Fett. Fliegen summen in den Fenstern herum und driften träge über die Fleischstücke hinweg, die noch verarbeitet werden sollen.
»Kannst du kurz hier warten?«, fragt Junior. »Ich sehe da etwas, um das ich mich kümmern muss.«
Ich nicke und er geht in die Schlachterei an der Ecke. Ich schleiche ihm nach, um zuzuhören. Zwei Männer, beide von der älteren Generation, sind an der Arbeit; allerdings gibt es fünf Arbeitsplätze in diesem Betrieb.
Einer der Männer schaut auf, als Junior eintritt. Er stößt seinen Kollegen an.
»Oh, äh, hallo, Ältester«, sagt er zu Junior und wischt sich die blutigen Hände an seiner dreckigen Schürze ab.
Junior macht sich nicht die Mühe, dem Mann zu erklären, dass er
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