Godspeed Bd. 2 - Die Suche
langsam unter.
Es war etwas an ihr –
– das mir bekannt vorkam.
Am Saum ihrer Tunika war eine Reihe kleiner weißer Tupfen.
So ähnlich wie die kleinen weißen Blumen, die Harley für seine Freundin Kayleigh gemalt hatte. Er hatte sie auf ihre Lieblingstunika gemalt, in derselben Nacht, in der er acht Stunden lang ihr Zimmer mit Efeuranken und weißen Blumen ausgeschmückt hatte.
Kayleighs Blumen.
Kayleighs Tunika.
Kayleigh.
Harley stieß einen Laut aus, der sich anhörte wie der Schrei eines Tieres, und stürmte so hastig ans Ufer, dass sein Fuß eine rotbraune Furche in die Erde pflügte. Als er sich in den Teich stürzte, schob er das Wasser mit ausgebreiteten Armen zur Seite, als könnte er mit dieser Bewegung alles wegwischen, was er vor sich sah.
Das Wasser wollte sie nicht hergeben. Ihr Kopf sank.
Harley tauchte und packte Kayleighs Handgelenke. Er drehte sie im Wasser um und versetzte ihr eine Ohrfeige, als müsste er sie aus einer Ohnmacht wecken, aber ihr Kopf wippte nur sanft im Wasser auf und ab. Er schwamm ein Stück, zerrte ihren Körper zu sich heran, schwamm wieder ein Stück und zog sie erneut zu sich. Sie trieb widerstandslos hinter ihm her, und ihre Arme und Beine tanzten wie die einer Marionette, bei der man an allen Schnüren gleichzeitig zieht.
Harley rutschte aus, fiel auf ein Knie, fand dann aber doch Halt und watete durch den zähen Schlamm. Mit einer letzten Kraftanstrengung schleppte er Kayleighs Leiche ans Ufer und brach neben ihr zusammen.
Etwas Schmutzwasser rann aus ihrem linken Mundwinkel, den sie immer nach oben gezogen hatte, wenn sie amüsiert grinste. Schlamm glitt über ihr Gesicht, sammelte sich am Rand ihrer Wange und platschte zu Boden.
Harley schrie und schluchzte etwas, das ich nicht verstehen konnte.
Ich konnte nur dastehen und sie anstarren.
Ihr linkes Bein war nach hinten verdreht. Der Knöchel lag unter ihrem Hintern und das scharf angewinkelte Knie ragte nach oben. Ein Arm hing über ihrer Brust, der andere zeigte lang ausgestreckt in Richtung Krankenhaus. Harley schien es plötzlich sehr wichtig zu sein, ihren Körper richtig hinzulegen. Er streckte ihr Bein aus und strich ihre Hosenbeine glatt. Er legte ihr die Arme an die Seiten und streichelte ihr mit dem Daumen die Handfläche, wie er es immer getan hatte, wenn er dachte, dass niemand hinsah, kurz bevor sich die beiden küssten und alles außer ihrer Liebe für sie an Bedeutung verlor.
»Harley«, sagte ich und brach damit den Bann. Ich machte einen Schritt nach vorn und der Schlamm am Ufer schmatzte unter meinen Füßen. Ich kniete mich hin und fühlte, wie meine Hosenbeine das warme Wasser aufsaugten. Ich streckte die Hand aus – nach ihm oder nach Kayleigh, das weiß ich nicht mehr.
»Fass sie nicht an!«, fauchte Harley.
Ich war nicht schnell genug. Harley warf sich auf mich und schlug mir mit aller Kraft die Faust gegen den Kiefer. Meine Zunge fuhr schmerzhaft über meine Zähne und ich schmeckte Blut. Ich ließ mich in den Schlamm fallen und hielt schützend die Arme über den Kopf.
Als ich mich traute, wieder aufzuschauen, starrte Harley nach oben. Er hielt immer noch ihre Hand und sein Daumen glitt wieder und wieder über ihre kalte leblose Handfläche.
»Wieso hat sie mich verlassen?«, flüsterte er dem gemalten Metallhimmel über uns zu.
Denn dies war kein Unfall gewesen.
Es konnte kein Unfall gewesen sein.
Kayleigh hatte den Teich geliebt. Sie war immer mit den Kois geschwommen. Sie war mit Händen voll Futter untergetaucht und dann kamen die scheuen Fische an und fraßen ihr aus der Hand. Sie konnte länger den Atem anhalten als jeder andere, den ich kannte. Und wenn sie schwamm, konnte niemand sie einholen, nicht einmal Harley, der es immer wieder versucht hatte.
Kayleighs Tod konnte kein Unfall gewesen sein. Nicht im Wasser.
Ich starrte das an, was von ihr übrig war.
Blassgelbe Pflaster bedeckten die Innenseiten beider Arme. Docs Medipflaster – die Sorte, von denen man einschlief. Das war es, was sie getötet hatte. Kein Unfall. Sie hatte eine Wahl getroffen. Kayleigh war in ihr flüssiges Bett gegangen und hatte dafür gesorgt, dass sie nie wieder aufwachte. Sie hatte sich umgebracht. Wir wussten, dass es Selbstmord gewesen sein musste. Wochen- und monatelang hatte sie immer wieder kleine Bemerkungen oder beißende Kommentare darüber abgegeben, wie sehr sie es hasste, auf dem Schiff eingesperrt zu sein. Es war jedoch nichts gewesen, was uns aufgefallen wäre.
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