Godspeed Bd. 2 - Die Suche
merkwürdig. Normalerweise hat Harley sehr realistische Bilder gemalt, aber dieses ist … anders. Es ist ein Bild von Kayleigh, kurz bevor sie starb.«
Irgendwie wundert es mich nicht, dass das Bild, das Harley zur Erinnerung an Kayleighs Tod gemalt hat, merkwürdig ist – schließlich ist sein zweites surreales Bild sein eigenes Todesbild.
»Ihr Tod – er hat uns alle überrascht. Ich dachte immer, Harley wäre der Einzige von uns, der …«
»Du dachtest, Harley würde sich umbringen?«, frage ich.
»Er hat es ein paarmal versucht. Einmal vor Kayleigh. Zweimal danach. Dreimal«, verbessert er sich.
Er hatte den dritten Versuch vergessen, den erfolgreichen.
»Gleich nach Kayleighs Tod«, sagt Junior, »fing Harley mit diesem Bild an. Ich meine, wirklich gleich nach ihrem Tod – er hat die Leinwand am selben Tag bespannt, an dem wir ihre Leiche fanden, und er hat die ganze Nacht gemalt. Irgendwann hat Doc ihn dann mit einem Medipflaster ruhiggestellt. Als er schlief, habe ich ihm den Pinsel aus der Hand genommen. Er hatte tiefe Druckstellen an seinen Fingerspitzen hinterlassen.« Juniors Stimme hört sich an, als käme sie aus weiter Ferne.
Frisch geschlüpfte dottergelbe Flauschküken piepen uns an, als wir an ihnen vorbeigehen. Die Solarlampe steht genau über uns und lässt unsere Schatten auf dem staubigen Weg verschwinden. Die Stadt ist weit genug weg, dass ich zwar die Leute dort sehe, ihre Gesichter aber nicht erkennen kann, und das Archiv und das Krankenhaus liegen weit genug hinter uns, dass ich sie nicht mehr im Rücken spüre. Ich streife die Kapuze ab, wickle den Schal von meinen Haaren und genieße die kühle Luft an meiner Kopfhaut.
Hier, in diesem kleinen Bereich des Schiffs, wo außer Junior niemand ist, habe ich keine Angst.
Junior trottet weiter, die Augen auf den Boden gerichtet und mit gequälter Miene. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie sehr Stillschweigen und Geheimnisse einen von innen auffressen können.
Ich berühre seinen Ellbogen und er bleibt stehen.
»Erzähl mir, wie sie gestorben ist«, sage ich.
21
Junior
Ich war dreizehn und lebte noch im Krankenhaus. Das Schiff würde in 53 Jahren und 147 Tagen landen und dann würde ich derjenige sein, der alle Bewohner der Godspeed in eine neue Welt führte. Ich wohnte schon lange genug auf der Station, um zu wissen, dass Harley mein bester Freund und Doc ganz okay war, und dass es nicht mehr lange dauern würde, bis ich – endlich – meine Ausbildung zum Ältesten beginnen würde.
Das Leben war schön.
Bis …
Harley hatte mich herausgefordert, auf die Statue des Seuchenältesten zu klettern, die im Krankenhausgarten steht. Ich war gerade erst auf das Podest gestiegen, als er bereits am wohlwollend ausgestreckten linken Arm der Statue hing und zum Teich in der Nähe der Rückwand des Schiffs hinübersah.
»Da treibt was Großes im Wasser«, hatte Harley gesagt, etwas Schwung geholt und sich dann neben mir in den nachgemachten Rindenmulch fallen lassen. Auf dem Ellbogen des Seuchenältesten blieb ein roter Farbfleck zurück. »Lass uns nachsehen.«
Harley war größer als ich und konnte größere Schritte machen. Trotzdem hätte ich ihn nur zu gern zu einem Rennen herausgefordert. Aber Harley war auch vier Jahre älter als ich und empfand Wettrennen bestimmt als Kinderkram.
»Wetten, ich bin als Erster da?«, rief Harley und wirbelte beim Lossprinten den Mulch auf. Er warf einen Blick über die Schulter, lachte und wäre beinahe über eine blühende Hortensie gestolpert, die über den Weg hing. Blaue Blütenblätter flogen in alle Richtungen und wehten mir um die Knöchel, bevor sie zu Boden segelten.
Ich hatte Harley fast eingeholt und wollte gerade nach seinem Hemd greifen und ihn daran zurückreißen, um mir einen Vorteil zu verschaffen … als er wie angewurzelt stehen blieb.
Harley streckte abrupt den Arm aus. Er traf mich an der Brust, was mir den Atem nahm und mich unerwartet stoppte.
»He, was soll das?«, schnaufte ich empört.
Harley antwortete nicht.
Sein Gesicht war verschwitzt vom Rennen, aber darunter war er blass – geradezu leichenblass. Ich schaute von ihm zum Teich.
Ich wusste sofort, dass das Mädchen, das da mit dem Gesicht nach unten im Wasser trieb, tot war. Die langen dunklen Strähnen ihrer Haare versanken wie Anker, die ihren Körper auf den sandigen Grund des Teichs zogen. Ihre Arme trieben an ihrer Seite, Handflächen nach unten, und noch während ich zusah, gingen sie
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