Godspeed Bd. 2 - Die Suche
hat ein Bild gemalt, nachdem seine Freundin Kayleigh sich umgebracht hat. Ich weiß noch, wie Orion gesagt hat, es wäre seine ›bedeutendste Arbeit‹.«
Amy scheint nicht überzeugt. »Was ist los?«
»Glaubst du wirklich, dass er für den nächsten Hinweis wieder ein Bild genommen hat?«, fragt sie.
»Warum nicht?« Ich zucke mit den Schultern und durchsuche weiter die Leinwände. »Er hat die Hinweise extra für dich hinterlassen, aber lass uns ehrlich sein – er hat dich kaum gekannt. Aber vermutlich hat er gesehen, wie gut du mit Harley ausgekommen bist und hat sich gedacht, dass es der beste Weg wäre, dir die Hinweise über seine Bilder zukommen zu lassen.« Amy fällt die Verbitterung in meiner Stimme nicht auf; sogar Orion hat bemerkt, dass sie Harley näherstand als mir.
»Und wo ist dieses Bild?«, fragt sie.
»Keine Ahnung. Es hat hier an der Wand gehangen.«
»Wo?«, will Amy wissen. Sie betrachtet die einzige Wand, an der keine Gemälde hängen.
»Genau da«, sage ich. Ich habe die erste Reihe von Harleys Leinwänden durchgesehen und beginne mit der zweiten. »Jedenfalls hat Orion Harley gesagt, dass alle guten Bilder einen Titel haben. Harley fand, dass Bilder keinen Titel brauchen, aber Orion hat darauf bestanden und nannte das Bild …«
»… Hinter den Spiegeln «, beendet Amy meinen Satz.
»Genau.« Ich werfe ihr einen Blick zu. Sie steht gebückt vor der kahlen Wand und liest vor, was auf einer kleinen Plakette steht, die dort angebracht ist.
» Hinter den Spiegeln , Ölgemälde von Harley, Versorger.« Dann sieht sie mich fragend an. »Und wo ist das Bild? Hier ist zwar ein Haken dafür, aber kein Gemälde.«
»Hier ist es auch nicht«, sage ich und kippe den letzten Bilderstapel wieder zurück gegen die Wand.
»Es muss wirklich etwas Besonderes sein – es ist das einzige Bild, das etikettiert ist.«
Amy hat recht. Der Rest des Kunstlagers ist ziemlich chaotisch, aber die freie Wand fällt richtig auf. Offenbar sollte diese Stelle die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, nur dass nichts mehr da ist, was Aufmerksamkeit erregen könnte.
»Orion hat dem Bild einen Namen gegeben, es an einen Ehrenplatz gehängt und sich sogar die Mühe gemacht, es zu etikettieren – das muss der nächste Hinweis für uns sein.« Ihre grünen Augen mustern mich so eindringlich, als könnte sie Harleys Kunstwerk in meinen Augen sehen.
Ich stelle mich neben Amy und betrachte die leere Wand. »Aber wo ist das Bild?«
20
Amy
»Wer würde es wegnehmen?«, frage ich. »Irgendein Freund von Harley?«
»Sehr viele Freunde hatte er nicht. Eigentlich nur mich, Bartie und Victria.«
»Einer von den beiden?«
Junior schüttelt den Kopf. Ich glaube ihm – Bartie ist zu aufrichtig, um ein Bild zu stehlen, und während Victria sicher keine Skrupel hätte, würde sie ein Bild von Orion nehmen und keines von Kayleigh, zumindest wenn man nach der Zeichnung ging, die sie aus Harleys Zimmer geklaut hatte. »Und Doc würde so was nicht tun.«
Ich schnaube. Nein, Doc würde so was bestimmt nicht tun.
»Aber vielleicht …«
»Was?«, frage ich.
»Vielleicht haben es Harleys Eltern.«
Aus irgendeinem Grund überrascht mich das. Ich bin nie auf die Idee gekommen, dass Harley Eltern haben könnte. Er war einfach nur … da. Ich wusste zwar, dass die Bewohner der Station absichtlich von den anderen Versorgern getrennt worden waren, aber dass es außerhalb von Krankenhaus und Sternen noch etwas gegeben hat, das zu Harley gehörte, hätte ich nie vermutet.
»Komm mit«, sagt Junior. »Einen Versuch ist es wert.«
In meiner ganzen Zeit auf der Godspeed bin ich wohl noch kein einziges Mal durch das ganze Deck gegangen. Ich bin Dutzende Male hindurchgerannt – oder habe es zumindest getan, bevor die Wirkung von Phydus verflog – aber gegangen bin ich noch nie.
Wir nehmen denselben Pfad, der uns auch zur Kaninchenweide geführt hat. An der Weggabelung biegen wir jedoch nach links ab, statt den Hügel hinauf und zu den Feldern. Ich werfe dennoch einen Blick hinüber – der Zaun ist repariert und der ganze Bereich sieht aus wie immer. Ich beobachte ein paar Kaninchen, die faul herumhoppeln und dort schnüffeln, wo erst vor ein paar Stunden ihre tote Pflegerin gelegen hat.
»Erzähl mir von dem Gemälde«, verlange ich in dem verzweifelten Bemühen, das Bild des toten Mädchens in meinem Kopf durch irgendeine andere Vorstellung zu verdrängen.
»Es ist echt gut«, sagt Junior. »Aber auch irgendwie –
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