Gößling, Andreas
nach dem Türgriff, aber Marian legte ihr seine Linke auf den Arm. Von der anderen Seite der Kreuzung her kam ihnen ein alter Mann entgegen und er sah alles andere als vertrauenswürdig aus. »Bitte, Mutter.« Er nannte sie nur selten Mutter, meistens Linda oder gar nichts.
Die ungewohnte Anrede und wohl mehr noch der Tonfall ließen sie zögern. »Was hast du denn, Junge?« Sie blies sich eine dunkelblonde Haarsträhne aus der Stirn. »Ich will ihn ja nur fragen, wie wir nach Croplin kommen.«
Schau ihn dir doch an. Das sagte Marian nicht. Sogar der Name der gottverlassenen Kleinstadt kam ihm auf einmal unheilschwanger vor. Und dieser Wanderer sah wirklich wie eine Vogelscheuche aus. Hager, hochgewachsen, in einem viel zu großen, altmodischen schwarzen Anzug. Lange, gelblich weiße Haare, die ihm faden dünn auf die Schultern fielen. Ein Gesicht wie Altpapier – so grau, so tausendfach zerknautscht. Wo war der überhaupt hergekommen? Vielleicht aus dem Moor gekrochen?
»Wozu willst du aussteigen?« Marian versuchte, möglichst entspannt zu klingen. »Der ist doch sowieso gleich hier.«
Je näher der Wanderer kam, desto normaler sah er aus. Als er die Kreuzung erreichte, war es einfach ein alter Mann, der sich bedächtig fortbewegte und seit Längerem nicht beim Friseur gewesen war.
Linda kurbelte ihr Fenster herunter. »Entschuldigung, kennen Sie sich hier aus? Wir müssen nach Croplin.«
Der alte Mann stützte sich mit einer Hand gegen das Autodach. Ganz langsam beugte er sich zu ihnen herab, bis sein Gesicht vor der Fensteröffnung schwebte. »He gendahls, wie?« Seine Augenhöhlen waren tief wie das Moor. »Auf dem Weg zum Begräbnis?« Er stieß Geräusche von unklarer Bedeutung aus, irgendetwas zwischen Kichern und Röcheln. »Mein Beileid«, fuhr er dann fort, ohne eine Antwort abzuwarten. »Nach Croplin nehmen Sie am besten die nächste Straße rechts – in ungefähr einem Kilometer. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen vorausfahren . Da drüben steht mein Wagen.«
Ehe seine Mutter das Angebot annehmen konnte, hatte sich Marian über sie hinweggebeugt. »Schönen Dank – nicht nötig«, rief er dem alten Mann mit übertrieben freundlichem Lächeln zu. »Das finden wir schon allein.« Er nickte Linda auffordernd zu. »Lass uns um Himmels willen weiterfahren«, sagte er so leise, dass sie es eben noch hören konnte.
»Was hast du denn nur?«, murmelte seine Mutter wieder, legte aber folgsam den ersten Gang ein. Sie bedankte sich gleichfalls bei dem »Wanderer«, der immer noch in gebückter Haltung neben ihrem Wagen stand. Unendlich langsam richtete er sich auf und trat einen Schritt zurück.
Während sie über die Kreuzung fuhren, drehte sich Marian um: Der Mann im schwarzen Anzug bog links in die Straße ein. So rasch seine alten Beine es erlaubten, eilte er zu seinem Auto, das halb versteckt hinter einem Baum mit tief hängenden Zweigen stand. Auch das Auto sah ungeheuer alt aus – mit gewaltigen Chromleisten und Haifischflossen am Heck, wie ein Cadillac aus der Ära von Elvis Presley.
2
Die Straße wurde immer schmaler, dann hörte auch noch die Asphaltdecke auf – jetzt war es nur noch ein unbefestigter Weg. Auf beiden Seiten von knorrigen Bäumen gesäumt, mit kahlen Ästen, die fast bis auf den Boden hingen. Die Stämme schwarz, vor Nässe glänzend – eine Totenallee. Dahinter, zwischen den Zweigen mehr zu spüren als zu sehen, das Moor.
»Meinst du, wir sind hier richtig?«, fragte Marian.
»Bestimmt. Gleich die erste rechts, hat der Wanderer gesagt.« Linda hielt das Lenkrad mit beiden Händen umkrampft und starrte angestrengt nach vorn. »Dieser Weg ist wahrscheinlich eine Abkürzung, die sonst nur die Einheimischen nehmen.« Es klang nicht besonders überzeugend.
»Von wegen Wanderer«, murmelte Marian.
»Wie meinst du das jetzt wieder?«, wollte Linda wissen.
»So halt.«
Sie verstummten von Neuem. Marian hing seinen Gedanken nach, versuchte, das Kribbeln im Bauch zu ignorieren, das immer ärger wurde. Wie lange war es her, dass sie den alten Mann nach dem Weg gefragt hatten? Höchstens fünf Minuten. Aber es fühlte sich an wie eine zähe Ewigkeit.
»Komisch, wie früh es hier dunkel wird«, sagte er.
»Nicht früher als bei uns«, widersprach seine Mutter. Und doch hatte sie schon vor Minuten das Licht eingeschaltet. Der Weg bestand praktisch nur noch aus Baumwurzeln und Steinbrocken. Zwischen den Bäumen, unter dem Nebelschleier krochen sie dahin wie Überlebende einer
Weitere Kostenlose Bücher