Götter der Nacht
verriet, wie sehr er sich freute. Er konnte die anderen nicht täuschen. Sie kannten seine Art.
Yan ließ den Blick über seine Freunde wandern, die sich um den Tisch versammelt hatten. Sechs Erben. Und er selbst. Noch hatte keiner von ihnen sein Leben gelassen. Solange sie zusammen waren, würden sie es mit allem und jedem aufnehmen. Komme, was wolle.
»Haben deine weißen Haare etwas damit zu tun, dass du ihm den Schnurrbart abrasiert hast?«, scherzte Rey und löste damit erneut schallendes Gelächter aus.
»Wir mussten doch die Wunden im Gesicht versorgen«, erklärte Yan verlegen.
»Was?«, polterte Grigán mit gespielter Empörung. »Diese Schmach habe ich also dir zu verdanken? Léti, bring mir mein Schwert, aber schnell!«
»Ärgert Euch nicht«, sagte Corenn, als sich das Gelächter legte. »So wirkt Ihr weniger streng.«
»Aber er ist doch streng!«, spottete Rey.
So ging es noch eine Weile munter hin und her, während sich die Anspannung der letzten Tage allmählich löste. Schließlich erklärte Grigán, dass er müde sei, und zog sich in seine Kajüte zurück. Ohne sein Schwert und die schwarze Lederkluft sah man dem von Wunden gezeichneten Krieger an, wer er tatsächlich war: ein gealterter Kämpfer, ausgezehrt von über zwanzig Jahren auf der Flucht.
Yan bestand darauf, ihn zu begleiten. Grigán protestierte zunächst, aber dann überlegte er es sich anders, denn
ihm fiel plötzlich ein, dass er eine wichtige Frage loswerden musste.
»Yan … Weißt du, wer unser Feind ist?«
Der Junge bezweifelte, dass der Zeitpunkt günstig war. Aber der Krieger würde sicher nicht zu Bett gehen, bevor er es erfahren hatte. »Es ist Saat. Der Gesandte aus Goran. Er lebt noch.«
Grigán machte schon den Mund auf, um die nächste Frage zu stellen, doch dann hielt er inne und dachte kurz nach. Sein Blick fiel auf die weiße Strähne des Jungen, und er gab sich einen Ruck. »Und Usuls Fluch, von dem die Rede war? Das übermenschliche Wissen?«
Yan sah das erschöpfte Gesicht Grigáns, seinen zerschundenen Körper und die Sorgen, die er sich um andere machte, während er doch selbst am Ende seiner Kräfte war.
Usul hatte Yan prophezeit, dass Grigán noch vor Ablauf eines Jahres sterben werde.
»Es gibt keinen Fluch«, sagte Yan mit gespielter Fröhlichkeit. »Alles bestens. Wir werden diesen Saat schon finden, stimmt’s?«
»Ich bin dabei«, sagte der Krieger mit grimmigem Lächeln und zwinkerte ihm zu.
Er drehte sich zur Seite und schlief sofort ein. Yan kehrte in die Kombüse zurück und lauschte der ausgelassenen Unterhaltung seiner Freunde. So aufregend ihm dieses Abenteuer bislang erschienen war, nun sah er es wie seine Gefährten: als qualvolle Prüfung.
Da Grigán noch zu schwach auf den Beinen war, beschlossen sie, den Wasserweg nach Romin zu nehmen. Zunächst würden sie an der Küste der Provinz Helanien entlang bis
zur Mündung der Urae segeln. Von dort aus ginge es dann flussaufwärts bis zur Hauptstadt des Alten Landes. Alles in allem würde die Reise nicht länger als drei Tage dauern.
Corenns Hoffnungen - und damit auch die ihrer Gefährten - ruhten auf der Königlichen Bibliothek von Romin, besser bekannt als Bibliothek des Tiefen Turms, in der es der Legende nach seit Jahrhunderten spukte. Die Legende besagte außerdem, dass ihre Mauern das gesamte Wissen der Menschheit in sich bargen. Nur hier konnten die Erben hoffen, überhaupt irgendetwas über die Pforte von Ji, den Großen Sohonischen Bogen oder die anderen Pforten, deren Existenz sie nur vermuteten, in Erfahrung zu bringen. Ganz zu schweigen von Nol, der anderen Welt und dem Dämon Mog’lur.
Als Grigán kurz nach Mit-Tag aufwachte, stellte er erfreut fest, dass sich die Othenor bereits auf offener See befand. Die anderen nutzten die Gelegenheit, um Yan an sein Versprechen zu erinnern: Er sollte ihnen endlich von seinem Gespräch mit Usul erzählen. Yan erkannte, dass er sich nicht länger davor drücken konnte, und begann seinen Bericht.
Bowbaq zitterte, als ihm klar wurde, dass Yan beinahe ertrunken wäre. Léti erschauerte bei der Beschreibung des Hais. Lana dachte ehrfürchtig daran, dass der Junge mit einem Gott gesprochen hatte. Nachdem sie ihr ganzes Leben dem Glauben an Eurydis gewidmet hatte, ohne auch nur einen einzigen Beweis für ihre Existenz zu haben, machte dieses Erlebnis großen Eindruck auf sie.
Usul hatte Yan verraten, wo das Tagebuch von Maz Achem versteckt war. Es befand sich in Ith, im
Weitere Kostenlose Bücher