Götter der Nacht
und zu hoffen. So wachte Corenn allein in der Dunkelheit, lauschte dem gleichmäßigen Atem des kranken Freundes und ließ ihre Gedanken schweifen.
Es war der Quint der Dekade der Heimstatt, der Tag der Frauen. Im ganzen Matriarchat wurden die letzten Dekanten dieses Tages mit einem Fest begangen. Die letzten Momente vor dem Anbruch der Jahreszeit der Erde. Die letzten Vorbereitungen vor der großen Kälte. Die letzten Arbeiten im Freien, bevor der Winter eine Ruhepause einkehren ließ.
Ein ordentlicher Brennholzvorrat, ein gut gefüllter Keller und ein festes Dach über dem Kopf, diese einfachen Freuden waren Corenn schon immer wichtig gewesen. Dabei wohnte sie selbst seit vielen Jahren im Großen Haus und hatte noch nie Not gelitten. Als Mutter der Tradition und Mitglied im Ständigen Rat hatte sie von Anfang an dafür gekämpft, dass alle anderen ebenso gut versorgt waren. Und sie hatte viel erreicht.
Nun war wohl eine andere mit dieser Aufgabe betraut. Beinahe fünf Dekaden waren vergangen, seit sie Kaul verlassen hatte. Nach so langer Zeit hatte man sicher die Hoffnung
aufgegeben, dass sie noch lebte. Vielleicht war ihr Arbeitszimmer schon leer geräumt. Vielleicht sogar ihre Privatgemächer.
Die Dekade der Heimstatt … Sie hatte keine Heimstatt mehr. Und sie würde keine mehr haben, solange Saat die Gildenbrüder, die Züu und einen todbringenden Dämon auf sie hetzte. Sie würde keine mehr haben, bevor ihre Suche nicht zu Ende war.
Doch welche Aussichten hatten sie ohne Grigán?
Außerdem … Was hatte das alles für einen Sinn, ohne Grigán?
Sie ergriff die Hand des Kriegers und hielt sie fest umklammert. Vor den anderen hätte sie sich dazu niemals hinreißen lassen. Sie durfte weder Schwäche noch Mutlosigkeit zeigen. Dabei hätte sie selbst ein wenig Zuspruch so bitter nötig …
»Ihr dürft nicht aufgeben, Meister Grigán«, flüsterte sie. »Wir brauchen Euch. Ich brauche Euch.«
Grigán streichelte Corenns Finger mit dem Daumen. Die Ratsfrau erfuhr nie, ob die Bewegung nur ein Reflex war oder ob er sie tatsächlich gehört hatte. Lange wagte sie sich nicht zu rühren.
Auf dem Weg in die Kombüse der Othenor stieß sich Yan zweimal den Kopf und wäre beinahe auf der Treppe gestolpert. Dass er eine sehr schlechte Nacht verbracht hatte, war noch gelinde ausgedrückt. Er hatte eine grauenvolle Nacht verbracht. Zwar hatte er noch nie so viel Alkohol getrunken, dass ihm davon übel wurde, aber so wie er sich gerade fühlte, konnte er sich diesen Zustand ziemlich gut vorstellen.
Als er die Tür zur Kombüse aufstieß, brach das Gelächter, das bis zu seiner Hängematte gedrungen war, unvermittelt ab. Auch wenn er sich denken konnte, dass er nicht unbedingt aussah wie das blühende Leben, begriff er nicht, warum ihn seine um den Esstisch versammelten Freunde so überrascht anstarrten. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet. Yans Gedanken kreisten noch immer um den allwissenden Gott und seine Weltuntergangsprophezeiungen. Er konnte ihren Worten nur mit Mühe folgen.
»Yan, dein Haar!«
»Was ist?«
»Es ist weiß geworden!«
Er ließ es sich mehrmals versichern, bevor er sich auf die Suche nach einem Spiegel machte. Kaum hatte er den Raum verlassen, erklang wieder munteres Lachen. Trotz seiner Benommenheit fand Yan die Reaktion seiner Freunde etwas herzlos. Falls ihre Behauptung stimmte, war das nicht besonders lustig, und wenn sie gelogen war, hatten sie sich einen reichlich merkwürdigen Streich ausgedacht …
Er erinnerte sich, in der Kapitänskabine einen Spiegel gesehen zu haben, und tappte mit unsicheren Schritten hin. Als er fündig geworden war, betrachtete er sein Gesicht. Tatsächlich hatte die Haarsträhne, die ihm immer in die Stirn fiel, alle Farbe verloren. Unbeholfen legte er den Handspiegel zurück. Verunstaltet war er dadurch nicht, das Ganze war ihm so egal wie der pelzige Hintern eines Margolins. Ihn bedrückten andere, viel schwerwiegendere Dinge. Was war es doch gleich?
Er fuhr herum, starrte auf Grigáns Krankenlager und war mit einem Schlag hellwach. Diesmal stolperte er nicht, als er in die Kombüse lief und mit ein paar Sätzen das Zimmer durchquerte, um Grigán, der gesund und munter wirkte, unter dem Beifall seiner Freunde um den Hals zu fallen.
»Ihr seid geheilt! Ihr seid geheilt!«, rief er immer wieder mit Tränen in den Augen.
»Ehrlich gesagt, ich leide Todesqualen. Du musst mich nicht gleich erdrücken.«
Grigán gab sich hart, doch seine Miene
Weitere Kostenlose Bücher