Götter der Nacht
Geheimarchiv des Großen Tempels. Als sie das hörte, hätte Lana beinahe losgeweint. Vor Freude, weil sie nun sicher sein konnte, dass dieses Tagebuch, das ihnen viele Antworten liefern würde, tatsächlich existierte. Und vor Unmut, weil es sich
die ganze Zeit unter ihren Füßen befunden hatte, ohne dass sie etwas davon geahnt hatte. Aber sie schluckte die Tränen hinunter, denn sie standen einer Maz nicht zu.
Einen Augenblick später weinte sie dann doch, als Yan verkündete, dass die Pforte ins Jal’karu führte.
»Die schwarzen Götter«, schluchzte sie. »Weise Eurydis! Unsere Vorfahren wurden den schwarzen Göttern ausgeliefert. Möge ihr Geist in Frieden ruhen.«
Rey legte der Priesterin seinen Arm um die Schultern, doch sie schob ihn sanft beiseite. Sie war eine Maz. Sie durfte kein Mitleid erregen, sondern musste mit gutem Beispiel vorangehen und die drei Tugenden der Weisen vertreten: Wissen, Toleranz, Frieden.
»Er hat auch von Jal’dara gesprochen«, fügte Yan hinzu, um Lana zu trösten. »Sagt Euch das etwas?«
»Nein«, erwiderte die Priesterin entschuldigend, während sie sich die Tränen trocknete. »Diesen Namen habe ich noch nie gehört. Bestimmt ist damit dasselbe gemeint.«
»Vielleicht auch nicht«, sagte Corenn leise.
»Natürlich ist es dasselbe«, mischte sich Rey ein. »Die Pforte führt ins Jal’karu. ›Das Land, in dem die Dämonen geboren werden und aufwachsen‹, wie es Lana ausgedrückt hat. Sonst gibt es dort nichts.«
»Das Jal’dara beschreibt vielleicht eine andere Ebene … Eine spirituelle Interpretation …«
»Wie kann ein Ort gleichzeitig zwei verschiedene Orte sein?«, fragte Bowbaq.
Niemand antwortete. Für ihre Theorien gab es keinerlei Anhaltspunkte, und diese Vermutungen überstiegen ihr Verständnis bei weitem. Nur Lana glaubte Corenns Gedankengang zu erahnen, doch die Diskussion erübrigte sich, solange sie nicht mehr darüber erfuhren.
»Wenn wir schon wissen, woran wir sind, was wollen wir dann noch in Romin?«, fragte Rey. »Es wäre doch nur logisch, direkt nach Ith zu reisen und das Tagebuch von Achem zu holen.«
»Romin liegt nur zwei Tagesreisen entfernt. Nach Ith brauchen wir mehr als zwei Dekaden, ganz davon abgesehen, dass unser Schiff die Strecke nicht schaffen würde. Wenn wir schon den Landweg nehmen müssen, können wir genauso gut einen kleinen Umweg machen. Darauf kommt es nun auch nicht mehr an.«
»Na gut, Corenn, Ihr habt wieder einmal recht. Sonst noch irgendwelche guten Neuigkeiten, Yan?«
Usul hatte ihm Grigáns Tod vorausgesagt. Er hatte von einem entsetzlichen Krieg gesprochen, der die Oberen Königreiche verwüsten würde, vom Untergang der größten Zivilisationen der bekannten Welt, und all das noch vor Ablauf eines Jahres.
Andererseits spielte Usul mit der Zukunft. Indem er sie preisgab, versetzte er sie in Bewegung. Alles, was der Gott prophezeit hatte, würde Yan durch den verzweifelten Versuch, dieses Schicksal zu verhindern, nur noch schneller herbeiführen, während er durch den Versuch, es wahr zu machen, alles verändern könnte. In jedem Fall war die Zukunft ungewiss. Usul fand das unterhaltsam. Yan hingegen litt darunter - und würde weiter leiden.
Der Gott hatte auch seinen Bund mit Léti vorhergesagt. Nichts wünschte er sich sehnlicher - aber wie sollte er sich verhalten? Er hatte sich seither jedes Wort und jeden Schritt zweimal überlegt und angestrengt versucht, sich nichts anmerken zu lassen. War das die beste Lösung? Was sollte er tun? Sollte er versuchen, die Zukunft um jeden Preis zu verändern, selbst auf die Gefahr hin, alles zu verschlimmern?
Oder sollte er sich der Verantwortung entziehen und darauf hoffen, dass sich alles von selbst einrenken würde? Usul hatte recht. Wer nichts tut, tut damit auch schon etwas.
»Yan? Hast du gehört?«
»Ja, Rey. Ich habe Euch alles gesagt. Ihr wisst so viel wie ich.«
Nur in einem war er sich absolut sicher. Es würde nichts nützen, den Fluch an seine Freunde weiterzugeben. Diesen inneren Dämon würde er allein bezwingen müssen.
Die zweitägige Reise verging wie im Flug. Um sich abzulenken, nutzte Yan die freie Zeit für magische Übungen. Eine Münze umfallen zu lassen, bereitete ihm mittlerweile keine Mühe mehr, es war schon fast ein Kinderspiel. Also konzentrierte er sich darauf, sie aufzurichten, wenn sie flach auf dem Boden lag. Er legte sie immer wieder hin und hob sie erneut auf, allein durch die Kraft seines Willens. Nach zwei
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