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Götterdämmerung (German Edition)

Götterdämmerung (German Edition)

Titel: Götterdämmerung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Schwarzer
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noch in seinem Mund, aber längst nicht mehr so intensiv wie unten im Keller. Eher wie eine flüchtige Erinnerung, die sich einen Moment lang materialisiert hatte. Sein Herz dagegen klopfte wie wahnsinnig.
    Oh Gott , dachte Ben, das ist wirklich passiert! Ich war wirklich in diesem Schacht!
    Stimmte das? Das Problem war, dass er nicht sicher zuordnen konnte, wem diese Erinnerung gehörte. War er es? War es Kai? Er wusste es nicht. In seinem Kopf ging alles drunter und drüber, die Erinnerungen beider Personen hatten sich miteinander vermischt. Er konnte nicht einmal mehr sicher sagen, wo er zur Schule gegangen war und wer seine Freunde gewesen waren. Welche Hobbys er gehabt hatte. Wo er die Ferien verbracht hatte und mit wem. War er jemals im Urlaub gewesen? Immer, wenn er versuchte, sich an ein Ereignis zu erinnern, wirbelten unzählige Bilder durch seinen Kopf, die allesamt nicht zueinander passten. Wie zwei Puzzlespiele, deren Teile komplett miteinander vermischt worden waren und nicht wieder sortiert werden konnten. Es gab nur Bruchstücke, aber kein Bild. Alles war durcheinander. Das Chaos endete vor genau zwei Jahren. Alles was seitdem geschehen war, konnte Ben auch jetzt noch klar und deutlich sehen.
    Vor zwei Jahren ist etwas passiert , dachte Ben. Etwas, das mein Leben verändert hat. Möglicherweise war es der Unfall in dem Schacht. Vielleicht steckte noch mehr dahinter. Er versuchte, sich zu erinnern, was nach dem Unfall passiert war, aber dieser Teil lag im Verborgenen.
    Ben blinzelte und öffnete die Augen. Langsam beruhigte er sich. Sein Herz hatte aufgehört, wie ein wilder afrikanischer Geist in seiner Brust zu trommeln. Die Erinnerungen wirbelten nicht mehr so durcheinander und es gelang ihm, sich auf die Straße zu konzentrieren.
    Er war immer noch allein. Zum Glück hatte ihn niemand bei seinem Ausstieg beobachtet. Ben stand auf und setzte sich wieder in Bewegung. Das Polizeiauto war nicht mehr zu sehen. Nach wenigen Schritten tauchte es jedoch erneut in der Straße auf. Wahrscheinlich hatte es nur eine Runde gedreht. Vielleicht war es auch ein anderes Fahrzeug. Egal. Der Junge sprang zum nächsten Hauseingang, drückte sich dicht an die Tür und hoffte, dass er den Polizisten nicht auffiel.
    Dann hörte er die Schritte.
     
    Mist , dachte Ben. Die Schritte näherten sich zügig. Er vernahm das Aufklatschen fester Schuhe. Das helle Tack Tack eines Spazierstockes. Er wartete darauf, dass sich die Schritte wieder entfernten, aber er wurde enttäuscht. Ein alter Mann kam auf ihn zu. Den Spazierstock richtete er nach jedem Bodenkontakt auf Ben, als wollte er ihm damit zu verstehen geben, dass er ihn längst entdeckt hatte. Der Alte hatte dichtes, weißes Haar, das ihm seitlich unter seiner grauen Hutkrempe hervorquoll. Die lebhaften, weit geöffneten Augen standen im Kontrast zu seiner gebückten Körperhaltung und seinem methusalemischen Alter. Sie strahlten so viel Energie aus, dass man sich ihnen kaum entziehen konnte.
    Der Alte zog sein rechtes Bein nach, was ihn aber nicht weiter in seinen Bewegungen zu stören schien. Er behielt sowohl die Straße mit dem sich stetig nähernden Polizeiauto als auch Ben im Auge. Seine Mundwinkel waren zu einem listigen Lächeln verzogen. Tack. Tack.
    Ben versuchte, ruhig zu bleiben. Er konnte schließlich stehen, wo er wollte. Vielleicht beachtete ihn der Mann nicht und ging einfach vorbei. Wenn er jetzt anfing wegzulaufen, würde die Polizei sofort auf ihn aufmerksam werden.
    Der alte Mann ging nicht vorbei.
    Er blieb neben Ben stehen und taxierte ihn, als wäre er eine Skulptur auf einem Kunstmarkt. Ben schaute ihn fragend an.
    „Wenn du nicht willst, dass ich die Polizei rufe, dann komm mit!“, sagte der Alte harsch. „Es sind nur ein paar Meter.“
    Er packte Ben am Arm. Sein Griff war unerwartet fest. Ben versuchte nicht, sich seinem Griff zu entwinden. Er folgte dem Alten widerwillig.
    Der Einsatzwagen war nur noch zwanzig Meter entfernt und kam immer näher. Der alte Mann blieb vor einem gelben viertürigen Sportcoupé stehen.
    „Steig ein!“, befahl er. Die Türen öffneten sich selbsttätig. Ben gehorchte und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. Der Mann warf ihm den Spazierstock auf den Schoß und nahm hinter ihm auf dem Rücksitz Platz. Der Wagen war ab Brusthöhe komplett rundumverglast. Ben rutschte nach unten soweit er konnte. Vorsichtig spähte er auf die Straße. Das Polizeiauto hatte angehalten. Doch dann schaltete sich das Blaulicht ein

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