Götterdämmerung (German Edition)
wusste, dass er keinerlei Befugnisse mehr hatte, die Herausgabe zu erzwingen, genau genommen durfte er das Gebäude gegen den Willen des Unternehmens nicht einmal betreten. Aber ihm würde schon etwas einfallen.
Er parkte in sicherer Entfernung zur Zentrale. In einer Seitenstraße gab es eine vollautomatische Parkanlage. Dort ließ er den Van auf einer metallenen Parkplatte stehen und zog sein Ticket. Der Wagen rollte in einen Lift und verschwand aus seinem Blick. Tom verließ das Übergabecenter.
Als er am Eingang der Zentrale ankam, hatte er ein seltsames Gefühl. Er musterte die Umgebung. Die Gebäude ringsum sahen noch genauso aus wie am Vortag. Auf der Straße fuhren Busse und Autos in kurzen Abständen vorüber. Wie jeden Morgen waren die Fußwege voller Passanten, die zu ihrer Arbeitsstelle eilten oder andere Besorgungen zu erledigen hatten. In den herbstbraunen Baumkronen flogen Vögel von Ast zu Ast. Alles war wie immer, aber Tom hatte dennoch das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Dass sich die Welt verändert hatte.
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Die Stadt lag hinter ihnen. Ben sah ihre Silhouette unscharf auf einem Monitor in der Mittelkonsole, der die äußere Umgebung abbildete. Der Alte hatte die Scheiben abgedunkelt. Die Landschaft, die an ihnen vorüberzog, hatte ihre Farben verloren und war in düstere Grautöne gehüllt: Graugrüne, eintönige Felder. Eine dunkelgraue Straße, von Apfelbäumen gesäumt, die wie abgestorben aussahen. Schwere unbemannte Erntemaschinen, die die letzten Futterrüben aus der Erde holten und zu großen schmutziggrauen Haufen aufwarfen. Das Sportcoupé fuhr Normaltempo. Konstante 105 km/h.
„Wohin fahren wir?“, fragte Ben. Er drehte sich um und musterte den Alten misstrauisch. Der Mann erwiderte seinen Blick, versuchte sogar ein kleines Lächeln, das Ben noch misstrauischer machte.
„Ich bringe dich in Sicherheit“, erwiderte er knapp. „In einer knappen Stunde sind wir da. Es wird dir gefallen.“
Ben schwieg. Er überlegte, wie seine Chancen standen, zu entkommen.
„Überleg dir gut, was du machst!“, sagte der Alte, als hätte er Bens Gedanken gelesen. „Ohne mich hast du schlechte Karten.“ Er bremste den Wagen und ließ ihn am Straßenrand anhalten. Dann entriegelte er die Türen.
„Steig aus!“, wies er ihn an. „Wir wechseln den Wagen.“
Ben gehorchte sofort. Er hatte das Verlangen, geradewegs loszurennen, zurück zur Stadt, aber es irritierte ihn, dass der Alte ihn einfach so aussteigen ließ. Es kam ihm wie eine Falle vor.
Er will, dass ich weglaufe , dachte er. Damit er mich erschießen kann.
Sein Blick streifte aufmerksam die Umgebung. Felder und Wiesen und eine kaum befahrene Straße. Vielleicht hatte er trotzdem eine Chance. Vielleicht war es seine letzte Chance. Die Stadt lag keine zwanzig Kilometer entfernt, nicht mehr als ein halber Tagesmarsch. Wenn er rannte, würde der alte Mann kaum hinterherkommen.
Der Alte lief um das Auto herum und musterte den Jungen mit zusammengekniffenen Augen.
„Es dauert zwei Minuten bis der andere Wagen da ist“, sagte er. „Wenn du willst, dann geh! Ich habe meine Aufgabe erfüllt und dich hierher gebracht. Aber du solltest wissen, dass wir eine Menge riskiert haben, um dich zu finden.“
Auf dem Nummernschild des Sportcoupés wechselte wie von Geisterhand das Kennzeichen.
„Wer seid ihr?“, fragte Ben, während sein Blick weiterhin über die Felder schweifte. Er sollte schleunigst gehen. Oder wollte der Alte ihm tatsächlich helfen? Was, wenn er sich diese Chance entgehen ließ? Er fühlte sich wie zerrissen. Ein Teil von ihm klebte förmlich auf dem Asphalt der Straße, während der andere versuchte, loszukommen.
Der Alte betrachtete ihn aufmerksam. „Hast du schon einmal von der Organisation Delta 12 gehört?“, fragte er, wartete Bens Antwort jedoch nicht ab. „Nein? Dachte ich mir. Wir sind nichtöffentlich.“ Sein Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen und entblößte ein tadelloses, weiß blitzendes Gebiss. „Man könnte auch geheim dazu sagen, eine Geheimorganisation, wie im Film – nur leider viel bedeutungsloser.“ Der Alte schwieg, hing seinen Gedanken nach. Dann richtete er sich auf und sagte mit müder Stimme: „Es tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe. Es ging nicht anders. Ich hatte keine Zeit für lange Erklärungen.“ Er seufzte. „Es tut mir auch leid, was mit deinen Eltern passiert ist. Dein Vater war ein guter Freund von mir. Er hat mich gebeten, mich im Falle
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