Götterdämmerung (German Edition)
Sohn. Sein Blick schweifte zurück zum Haus. Die reglosen Gestalten im Vorgarten hatte er vergessen. Er sah sie nicht einmal mehr. Er sah nur den Riss zwischen Seitenbalkon und Badfenster, der ihn seit seinem Einzug ärgerte und der eindeutig auf Pfusch am Bau zurückzuführen war.
Ben seufzte und steckte einen Schlüssel ins Schloss, der nur in seiner Phantasie vorhanden war. Dann drehte er ihn zweimal herum. Er sah bereits den Flur vor sich, mit seinen terrakottafarbenen Fliesen und dem Schuhschrank, der eindeutig überdimensioniert war, auf dem Eva aber bestanden hatte. Die Tür blieb geschlossen.
Ben erwachte, als er mit dem Kopf gegen das eingefasste Milchglasfenster stieß. Erst jetzt fiel ihm auf, dass die Tür überhaupt kein Schloss besaß, sondern mit Code und Gesichtserkennung ausgestattet war.
Rückwärts lief er die Treppe hinunter. Der Mann und die Frau im Vorgarten warfen ihm einen einzigen flüchtigen Blick zu und wandten sich dann wieder dem Haus zu, das sie anstarrten, als befänden sie sich in einem tiefen Trance-Zustand. Ben schoss durch den Kopf, dass er ihnen möglicherweise sehr ähnlich sah. Auch er hatte reglos vor der verschlossenen Tür gestanden und die Welt um sich herum vergessen. Aber er war aufgewacht.
Schnell wechselte er die Straßenseite und lief davon. Wieder hörte er das Heulen einer Sirene, ganz in der Nähe diesmal. Er schenkte ihm keine Beachtung. Er war noch viel zu sehr damit beschäftigt, die letzten Erlebnisse zu verstehen. Aber er konnte es drehen und wenden wie er wollte: Es verstand nichts. Überhaupt nichts. Er konnte nicht begreifen, wieso er sich an das Leben eines Mannes erinnerte, den er aller Wahrscheinlichkeit nach nie kennengelernt hatte. Von dem er bis vor zwei Tagen überhaupt nichts gewusst hatte und dessen Erinnerungen seine eigenen zu überlagern begannen. Ben fand es erschreckend, wie sehr diese Bilder über ihn bestimmten, dass er praktisch handlungsunfähig war, sobald eine weitere Sequenz dieses Lebens zutage trat.
Er beschleunigte seinen Schritt und beeilte sich, von dem Haus wegzukommen, bevor es wieder irgendetwas mit ihm anstellte. Ihn zu sich rief . Er befürchtete allerdings, dass er früher oder später zurückkommen musste.
Ein Polizeiauto bog langsam in die Straße ein und kam ihm entgegen. Es hatte die Sirene ausgeschaltet und fuhr nicht schneller als Schritttempo. Ben sprang hinter einen Mauervorsprung und hoffte, dass er schnell genug gewesen war. Hoffentlich kam nicht gerade jetzt einer der wenigen Passanten vorbei. Bis eben war ringsum alles ruhig gewesen. Die meisten Leute waren wohl auf Arbeit oder hielten ein Mittagsschläfchen, so wie sein Vater es gewöhnlich tat.
Hinter Ben befand sich ein Kellerfenster in Kniehöhe. Es war angekippt. Das Fenster hatte kein Gitter und schien groß genug zu sein, dass er sich durchquetschen konnte, wenn er es richtig öffnete. Er beugte sich hinunter. Der Keller hinter der verschmierten Glasscheibe war dunkel und wenig einladend.
Das Fenster war nur eingehakt. Ben steckte seine Hand durch den schmalen Schlitz und entfernte den Haken. Das Fenster klappte auf. Wieder sah Ben in den dunklen Kellerraum. Er glaubte, das hohe Fiepen einer Ratte zu hören, aber das störte ihn nicht. Selbst wenn da unten ein Dutzend der schwarzgrauen Nager auf ihn wartete, würde er mit ihnen fertig werden. Aber diese Dunkelheit … Ben konnte kaum erkennen, wie groß der Kellerraum war, geschweige denn, was er verbarg.
Was soll schon darin sein? Weinregale, Fahrräder, alter Trödel, Kleidersäcke vielleicht. Nichts davon ist gefährlich.
Aber er hatte bereits zu lange darüber nachgegrübelt, als dass sich diese Gedanken einfach abschütteln ließen. Er glaubte nicht, dass sich die Panik noch verhindern ließ, wenn er erst mal da unten in dem dunklen engen Raum steckte. Trotzdem. Ein besseres Versteck gab es nicht.
Der Junge holte tief Luft und kletterte rückwärts mit den Beinen zuerst durch das kleine Fenster. Der Fensterrahmen drückte gegen seinen Rücken und knarrte. Einen Moment lang fürchtete Ben festzustecken. Er zwängte sich weiter, mit aller Kraft und schließlich ließ der Druck nach. Ben sprang auf den harten Boden, ohne die Fensteröffnung aus den Augen zu lassen. Er wollte nicht wissen, was sich hinter ihm im Raum befand. Er wollte das Licht sehen. Er hoffte nur, dass die Zeit schnell verging und er aus dem scheußlichen Kellerloch klettern konnte. Und dass ihn niemand hier unten erwischte.
Im
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