Götterdämmerung (German Edition)
schmalen Lichtstrahl, der durch die Fensteröffnung fiel, tanzte Staub. Ben kam es so vor, als würde der Staub das ohnehin schwache Licht weiter verdunkeln. Er konnte ihn auf seiner Zunge fühlen. Stellte sich vor, wie er ihn einatmete. Ich ersticke , dachte er und starrte auf die Staubpartikel vor seiner Nase.
Ich kann nicht ersticken , versuchte er sich zu beruhigen. Da oben ist das Fenster. Es ist offen. Ich muss bloß atmen. Atmen.
Er atmete, atmete so tief ein, als müsste er seine Lungen noch einmal füllen, bevor der Sauerstoff knapp wurde, aber es half nicht. Der Staubgeschmack auf seiner Zunge wurde intensiver und vermischte sich mit dem Geschmack von Erde. Der Junge fiel auf die Knie, griff sich an den Hals und hustete und würgte. Das Fenster verlor er dabei aus den Augen. Alles was er jetzt noch wahrnahm, war Dunkelheit. Er hätte den Blick nur ein kleines Stück heben müssen, aber er schaffte es nicht. Nicht einmal dieses kleine Stück.
Geh da nicht rein!
Das war Dominik. Er klang besorgt. Ben lachte.
Wenn du Schiss hast, musst du ja nicht mitkommen , meinte er und ließ ihn stehen. Dominik war ein Weichei. Sein bester Freund, aber trotzdem ein Weichei. Er betrat den Schacht. Es war kühl und feucht hier drinnen, nicht unangenehm an einem heißen Sommertag. Er schaltete seine Taschenlampe an, beleuchtete damit die alten Wände und lief weiter. Tiefer, immer tiefer in die Dunkelheit hinein. Kurz bevor der letzte Rest Tageslicht verschwand, drehte er sich zum Ausgang um. Dominik stand draußen, klein, mit hängendem Kopf und hängenden Schultern. Ben lächelte, teils schuldbewusst, teils spöttisch und setzte sich wieder in Bewegung.
„ Komm zurück, Ben! Geh nicht weiter!“, hörte er Dominik rufen. Er ignorierte es. Dominiks Stimme wurde leiser. Die Dunkelheit noch dichter. Der Weg vor ihm unheimlicher, obwohl er seine Taschenlampe dabei hatte. Aber er wollte wissen, wie tief dieser alte Schacht war und wohin er führte.
Noch ein paar Schritte , dachte er. Dann kehre ich um.
Der Gang war nun so schmal, dass er mit seinen Armen immer wieder an die kalten, feuchten Wände stieß. Die alten Holzbalken links und rechts und über ihm ächzten, aber Ben achtete nicht darauf. Ein kleines Stück konnte er noch gehen. Das schwache Licht der Taschenlampe fiel auf eine Holztür. Ben lief an ihr vorbei. Der Schacht musste wirklich uralt sein.
Plötzlich verwandelte sich das Ächzen in ein dumpfes Grollen, direkt über seinem Kopf. Ben riss die Taschenlampe hoch. Er zögerte kurz und machte dann kehrt. Bis zum Ausgang war es ein gutes Stück Weg.
Ein paar Meter hinter ihm stürzte die Decke ein, weit genug entfernt, um ihn nicht zu treffen. Eine Wolke aus Staub breitete sich im Gang aus und hüllte ihn ein. Ben erschrak. Er begann zu rennen. Scheiße, Scheiße, Scheiße , dachte er, aber noch war es nicht zu spät. Wenn er sich beeilte, würde er hier raus kommen, bevor der ganze Schacht in sich zusammenfiel. Er würde einen gehörigen Schrecken davontragen und später darüber lachen und sich mit seinem Abenteuer brüsten.
Es dauerte nur ein paar Augenblicke, bis die Decke direkt über ihm einstürzte. Ein Stück Holz traf ihn an der Schulter. Erde rieselte auf seinen Kopf. Noch mehr Erde, mehr, immer mehr. Die Masse riss ihn zu Boden und drückte seine Lungen zusammen. Er fühlte keinen Schmerz, nur den ungeheuren Druck, der auf ihm lastete. Die Taschenlampe war ausgegangen oder ebenfalls verschüttet. Es war dunkel. Er hatte Staub und Erde in den Augen, in den Nasenlöchern und auf der Zunge. Sein Hals kratzte und er rang verzweifelt nach Luft. Dominiks Stimme war nicht mehr zu hören.
Mit letzter Kraft versuchte Ben Arme und Beine zu heben, um sich von der Erde zu befreien, sich irgendwie nach oben zu graben, aber er konnte nicht einmal den kleinen Finger bewegen. Ein paar Mal rang er noch keuchend nach Luft, atmete Erdklumpen und Staub ein und würgte. Dann spürte er nichts mehr.
Ben kratzte verzweifelt mit den Händen über den harten Betonboden. Er hatte das Gefühl, seine Atmung habe ausgesetzt. In wilder Panik riss er seine Arme nach oben – und fand das Fenster wieder. Keuchend sprang er auf die Öffnung zu, krallte seine Hände an der Mauer fest und zog sich nach oben. Dann zwängte er sich durch das Fenster und rollte sich auf den Fußweg.
Das Tageslicht kam ihm so hell vor, als wäre er jahrelang blind gewesen. Er schloss die Augen. Der Geschmack von Erde und Staub war immer
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