Götterdämmerung in El Paso (German Edition)
Schwester. »Offensichtlich waren Sie nicht in der Stadt.«
»Ich habe ein Mobiltelefon.«
»Ich glaube nicht, dass wir die Nummer hatten.«
Ich setzte mich neben Velma. Meine Augen brannten. Sie sah mich noch immer nicht an. »Ich weiß nicht, warum ich das zugelassen habe, Mom«, sagte ich mehr zu mir selbst.
»Der letzte Lebensabschnitt ist oft nicht so, wie wir ihn uns vorgestellt haben«, sagte die Schwester.
Ich glaubte, mich verhört zu haben. »Was haben Sie gerade zu mir gesagt?«
»Der letzte Lebensabschnitt — «
»Ich habe Sie beim ersten Mal sehr wohl verstanden. Woher haben Sie das, aus einem Scheißleitfaden für hilfreiche Floskeln?«
Sie wich zurück, geriet fast ins Stolpern. »Eine derartige Ausdrucksweise können wir hier nicht dulden, Sir«, sagte sie.
»Eine Folterkammer erfordert eine kultiviertere Ausdrucksweise? Meinen Sie das?«
Sie fing ein wenig an zu stottern, bis ihre Professionalität erneut Oberhand gewann. »Versuchen Sie bitte, die Situation zu verstehen, Sir. Was hätten wir Ihrer Meinung nach tun sollen? Sie sterben lassen, weil sie die Nahrungsaufnahme verweigert hat? Nach dem Schlaganfall ist der Umgang mit ihr noch problematischer geworden. Sie war sehr unkooperativ. Man kann vom Pflegepersonal nicht mehr erwarten.«
»Vor allem glaube ich, dass man für fünf Riesen im Monat nicht sonderlich viele Streicheleinheiten erwarten kann«, sagte ich. Ich zog so behutsam wie möglich den Schlauch aus Velmas Nase. Dann schnallte ich ihr Handgelenk los.
»Jetzt lassen Sie sie verdammt noch mal in Ruhe. Wenn sie nicht essen will, ist das ihre Entscheidung. Ich werde jetzt bei ihr sitzen bleiben. Und wenn jemand ihr einen Schlauch in die Nase schieben will, muss er zuerst an mir vorbei.«
Alles, was verkehrt lief in dieser Welt, schien sich hier zu verdichten: eine kleine alte Dame mit einem Schlauch in der Nase und einem festgeschnallten Handgelenk, damit sie sich das beschissene Ding nicht herausziehen konnte.
Ich hatte keinen Plan. Was sollte ich machen? Hier sitzen bleiben, bis sie verhungert war, so, wie es eigentlich ihrem Wunsch entsprach? Würde man mich wegen Mordes anklagen?
Die Schwester verließ das Zimmer und war kurz darauf wieder zurück, in Begleitung zweier Pfleger. Der größere von beiden sagte: »Sie müssen das Gebäude verlassen, Sir. Sofort.«
Er war ein Muskelprotz mit einem hübschen Gesicht. Zu hübsch, um Risiken einzugehen. Er hatte eine gerade Nase, ausgeprägte Wangenknochen, ein gut modelliertes Kinn und Hollywood-Zähne. Er dachte sicherlich, er sei darauf angewiesen, alles in einwandfreiem Zustand zu erhalten. Ich stand auf. Mein mit frischen Narben gezeichnetes, zerschlagenes Gesicht nötigte ihn zu einem flinken Sidestep, ein Manöver, um einem möglichen rechten Cross zu entgehen. Dabei stieß er fast seinen Kollegen um.
»Wir gehen«, sagte ich.
»Habe ich es dir nicht gesagt, James?« Velma sprach mit meinem toten Vater, der irgendwo über uns schwebte oder gerade aus einer Wand trat. »Ich habe dir gesagt, der Junge wird zur Vernunft kommen.« Ihre Sprache war undeutlich, aber verständlich genug. Sie schloss das linke Auge und öffnete es wieder — ein verschwörerisches Zwinkern in Zeitlupe.
Ich hob sie hoch, trug sie aus dem Zimmer, den sterilen weißen Gang entlang und hinaus aus dem El Descanso. Ich setzte sie in den Monte und fuhr sie nach Hause.
49
Eine Woche später wurde Carla aus der Haft entlassen. Völlig ausgestanden war die Sache für sie jedoch nicht. Theoretisch drohte noch immer ein Verfahren wegen Beihilfe genauso wie eine Anklage wegen Behinderung der Justiz. Doch seit klar war, dass Hector niemanden ermordet hatte, sondern selbst Opfer eines irren Sadisten geworden war, verfolgten weder der Bezirksstaatsanwalt noch das Büro des Generalstaatsanwaltes des Staates Texas den Fall mit großem Engagement. Die Anschuldigungen waren zweifelhaft und würden aller Wahrscheinlichkeit nach fallen gelassen werden. Sie nahm ihre Lehrtätigkeit wieder auf, nur war die Festanstellung kein Selbstläufer mehr. Sie war sogar eher unwahrscheinlich, um genau zu sein. Carla hatte sich im Epizentrum zu vieler außerplanmäßiger Veranstaltungen der Unruhe stiftenden Art befunden. Die Leitung eines College will keine tickenden Zeitbomben, sie möchte willfährige Teamspieler. Die Lektionen der sechziger und siebziger Jahre wirkten noch immer nach im Gedächtnis des Campus.
Selbiades’ Frau hatte gegenüber der Polizei von Phoenix
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