Götterdämmerung
breitete die Arme aus. «Was tun wir?»
«Ich habe nachgedacht. Wenn wir den alten Säufer nicht mit Argumenten überzeugen können, müssen wir eben zu anderen Mitteln greifen. Da du zu Recht einwendest, bewusstlos könne Zeus seinen Befehl schlecht rückgängig machen, bleibt uns jetzt nur noch eine Möglichkeit …»
«Und zwar?»
Athene sah ihrem Götterbruder sekundenlang sehr ernst in die Augen. Dann sagte sie: «Wir müssen gegen das Gesetz verstoßen.»
«Welches Gesetz?», fragte Apollon arglos.
«
Das
Gesetz.»
Der Gott der seriösen Literatur wurde schlagartig kalkweiß. «Nein», brachte er kopfschüttelnd heraus, «nein, ausgeschlossen, Athene. Bei aller Liebe, Schwester, nichts zu machen. Damit lieferst du uns alle auf Gedeih und Verderb sterblicher Macht aus.» Er ließ ein weiteres, äußerst energisches Kopfschütteln folgen.
«Apollon, wir haben keine andere Wahl.»
«Trotzdem. Dann müssen wir uns eben fügen … Das können wir nicht, kommt nicht in Frage.» Erneut schüttelte er trotzig den Kopf. Das konnte nicht der richtige Weg sein. Unmöglich. Das Gesetz, ungeschriebener Bestandteil der in einigen Fällen recht zahlreichen Köpfe sämtlicher Götter, besagte nämlich schlicht und ergreifend, dass es schnöden Sterblichen keinesfalls erlaubt werden dürfe, den Sitz der Götter aufzusuchen. Und wie die meisten ungeschriebenen Gesetze war auch dieses äußerst sinnvoll, weil seine Verletzung den Verlust aller göttlichen Macht zur Folge haben musste. Denn was ist schon ein Gott, wenn er einem Menschen von Angesicht zu Angesicht gegenübersteht? In seiner eigenen Behausung? Apollon erinnerte sich schaudernd an Herakles, den ungeschlachten, rohen Krieger, den man den Göttern hatte gleichstellen müssen, nachdem er seine bescheuerten Prüfungen bestanden hatte. Und das wollte Athene noch einmal riskieren? Sich in die Hände eines dieser Würmer begeben, alle Macht über ihn verlieren, indem sie ihn nach Olympos führte?
«Nein, Schwester», sagte er sehr bestimmt und erhob sich. «Wir werden uns schon etwas Besseres einfallen lassen müssen.»
«Ach ja?» Die Arme vor der Brust verschränkt, lehnte sich Athene gegen den Platanenstamm. Sie setzte ein übertrieben neugieriges Gesicht auf. «Fein. Ich höre.»
«Tja …»
«Und zwar bitte möglichst bald, Apollon», flötete die Göttin honigsüß. «Wie dir nicht entgangen sein dürfte, haben sich Zeus’ Blitze inzwischen restlos selbständig gemacht. Mag ja sein, dass die Idee anfangs – wenn auch zufällig – relativ gut war, aber mittlerweile haben wir es mit einer echten, richtigen, wahrhaftigen, verheerenden Katastrophe zu tun. Also?»
«Ja, ja, ich überlege ja. Aber schmink dir gefälligst diesen blöden ironischen Unterton ab …»
«Verzeihung.»
Während Apollon nachdenklich auf und ab wanderte, landete Hugin behutsam im Wipfel der Platane. Athene bemerkte das sanfte Rascheln der Blätter und sah nach oben, entdeckte jedoch nichts. Apollon unterbrach seine Wanderung, senkte den Kopf und sandte ein lautes, resigniertes Seufzen in die warme, unbewegte Luft. Er wandte sich an seine Schwester, die ihn mit gekonnt gespielter Neugier anlächelte.
«Und wie?», fragte Apollon matt.
«Das ist der richtige Ton», erwiderte Athene, erhob sich und kam auf ihn zu. «So gefällst du mir, Bruder.»
«Frag nicht, ob ich mir selbst gefalle …»
«Also, pass auf: Erstens werde ich versuchen, Tyche anderweitig zu beschäftigen, dann sind wir wenigstens vor olympischen Schicksalsschlägen sicher.»
Im Quellfluss zu ihren Füßen blubberte es kurz, aber weder Athene noch Apollon schenkten dem trüben Wasser Beachtung. Hugin spähte von seinem Platanensitz aus in den Fluss und bemerkte ein schwaches Glitzern.
«Zweitens», fuhr Athene fort, «werde ich Hades aufsuchen und ihm klarmachen, dass er und seine Unterweltfreunde unmöglich mit dem Ansturm von Toten fertigwerden können, der auf sie zukommt, wenn Zeus nicht umgehend aufhört.»
«Gut», nickte Apollon.
«Drittens: Hera. Ich werde mit Hera sprechen. Wir müssen Zeus von allen möglichen Seiten bekämpfen und unter Druck setzen, damit er den Überblick verliert. Vor allem aber müssen wir ihn von unserem Vorhaben ablenken. Wenn er bemerkt, was wir im Schilde führen, wird er die von uns auserwählten Sterblichen am Näherkommen hindern.»
«Klingt logisch. Und was sollen Artemis und ich tun?»
«Ihr sprecht mit all jenen, die sich aus der Abstimmung herausgehalten
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