Götterfall
durchschaut hatte und wusste, wie sie tickte, was sie hören und spüren wollte. Menschenkenntnis war doch eigentlich Wenckes Disziplin. Und nun war sie selbst dermaßen manipuliert worden, dass sie noch immer ernsthaft an sich selbst zweifelte.
Die Geschehnisse auf Island hingen Wencke nach. Sie schlief schlecht, fühlte sich manchmal beobachtet und hatte zudem eine deutliche Abmahnung von ihrer Vorgesetzten kassiert. Natürlich, die Kosian wollte plötzlich nichts mehr wissen von ihrer mündlichen Zusage, dass der Fall Jan Hüffart noch einmal aufgerollt werden sollte. Sie stellte die Aktion als einen von Wenckes üblichen Alleingängen dar. Und wie hätte man da das Gegenteil beweisen sollen? Die Kosian hatte in Sachen GlaubwürdigkeitLKA-intern einfach die besseren Karten. Boris Bellhorn meinte, das hätte Wencke voraussehen können, die Kosian sei nun mal eine blöde Kuh.
Treffender konnte man es nicht formulieren. Wencke war ohnehin fest entschlossen, den Ärger in Kauf zu nehmen. Es war nicht ihre Art, untätig zu bleiben, wenn eine Sache unverkennbar zum Himmel stank. Auch wenn Doros Briefe eine Fälschung waren, auch wenn sie dabei fast draufgegangen wäre. Was soll’s, sie war Wencke Tydmers, knapp über vierzig, aber weit davon entfernt, vernünftig zu sein.
Immerhin, für ihren Sohn Emil war sie eine echte Heldin, wobei sich seine Bewunderung weniger auf den kriminalistischen Erfolg bezog als auf die Tatsache, dass seine Mutter im selben See baden war wie Lara Croft!
Übermorgen stand der nächste Besuch des Ministeriumsfuzzis an. Er hatte konkrete Maßnahmen in Sachen Sparpolitik angekündigt und jeder im LKA rechnete inzwischen fest mit Wenckes Versetzung. Was dann passierte? Es war Wencke fast schon egal.
Sie liefen den langen Friedhofsweg beinahe wortlos nebeneinander, und als sie sich dem Grabfeld A28 näherten, wurden Lenas Schritte auffallend langsam. »Da steht jemand!«
Das überraschte Wencke nicht, schließlich hatte sie selbst für diese Begegnung gesorgt. Die Frau im dunklen Regenmantel wischte mit einem Lappen den großen Stein aus weißem Marmor ab. Jeden einzelnen Buchstaben säuberte sie mit bedächtiger Hand: Unsere Tochter Dorothee Mahlmann, 1972 – 2003, geliebt und unvergessen .
»Ich geh da nicht hin«, sagte Lena und machte eine fast trotzige Kehrtwendung.
»Sie ist deine Großmutter.«
»Aber sie hat mich damals weggegeben.«
»Und ich könnte mir vorstellen, dass sie diese Entscheidungin den letzten Jahren mehr als einmal bereut hat.« Zugegeben, das war lediglich Wenckes Vermutung. Aber die Art, wie Doros Mutter damals bei ihrem Treffen in der Schlossküche über ihre Tochter gesprochen und noch mehr geschwiegen hatte, war ihr im Gedächtnis geblieben. Auch Frau Mahlmann wusste nicht, wem sie heute auf dem Friedhof begegnen würde, vielleicht wäre sie dann gar nicht zu diesem Treffen erschienen. Nun blieb nur zu hoffen, dass die beiden Frauen sich etwas zu sagen hatten.
»Das ist echt eine miese Tour, mich hier so auflaufen zu lassen.« Lena schaute fast flehend zu Götze. »Was soll ich denn jetzt machen?«
Doch der zuckte bloß mit den Schultern. Zum Glück. Bei diesem Mann wusste man schließlich nie, welche Situation ihn zur Weißglut bringen würde und wann er entspannt blieb. »Ich glaube, du hast genügend Fragen. Und sie ist wahrscheinlich die Einzige, die dir Antworten geben kann.«
Jetzt wandte sich die dunkle Gestalt in ihre Richtung, lächelte kurz und verharrte dann in der Bewegung.
Wencke löste sich als Erste aus der allgemeinen Erstarrung, lief auf Frau Mahlmann zu, streckte ihr die Hand entgegen und grüßte mit möglichst fröhlicher Stimme. »Darf ich Sie miteinander bekannt machen? Das ist Lena, Doros Tochter …«
Es dauerte allerhöchstens drei Sekunden, da hatte Frau Mahlmann das Tuch auf den Boden fallen lassen, war über die nassglatte Grabumrandung gestiegen und lief ihnen entgegen. Sie sah ganz und gar nicht überrumpelt aus, fast erweckte sie den Eindruck, als habe sie immer damit gerechnet, an diesem Ort einmal ihrer Enkelin zu begegnen. Sie blieb nur kurz stehen, schaute in ihr Gesicht, sagte: »Diese Augen!« Und dann schloss sie Lena in ihre Arme.
Götze räusperte sich übertrieben, Gefühlsmomente waren wahrscheinlich nicht seine Stärke. Ansonsten benahm er sichaber fast vorbildlich und erinnerte tatsächlich an einen Mann, der zum ersten Mal der Schwiegermutter gegenübertritt. »Ich schlage vor, wir gehen irgendwohin, wo
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