Götterfall
natürlich schon wieder. »Die Weltenesche. Sie verbindet Götter-, Menschen- und Totenreich. Manche behaupten, dass der Baum sich heute noch auf Island befindet. Trotz der Abholzung der Wikinger, die Baumaterial für ihre Boote brauchten. Wer weiß, vielleicht finden Sie ihn ja.« Sie lächelte schmallippig. »Sehen Sie die drei Frauen dort an der Wasserquelle?«
Da musste man aber schon ganz genau hinschauen. »Die mit den Tüchern und den Eimern?«
»Das sind die Nornen.«
Wencke fragte nicht nach, nein, diese Blöße wollte sie sich nicht geben. Konnte sein, dass sie schon mal etwas über dieNornen gelesen hatte, konnte auch nicht sein. Ihr Kopf war eben kein zuverlässiges Speichermedium, na und?
Doch die Kosian war erpicht darauf, ihr so mustergültig erworbenes Kulturwissen anbringen zu können, jetzt, wo sie in Hannover bleiben musste. »Die Schicksalsfrauen sitzen am Fuß des Weltenbaumes und begießen seine Wurzeln mit dem Wasser der Lebensquelle. Sie flechten die Schicksalsfäden eines jeden Menschen, ohne etwas zu verraten oder zu ändern.«
»Warum drei Frauen?«
»Sie stehen für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und heißen Urð, › die Gewordene‹ , Verðandi, › die Werdende ‹, und Skuld, › die schuldig Gebliebene ‹.«
Wencke nippte nachdenklich an ihrem Wasser. Hatte sie nicht gestern erst zu Boris gesagt, sie glaube nicht daran, dass alles irgendwie und irgendwann einen tieferen Sinn ergibt? Das war gewesen, bevor sie diesen Brief unter dem Kühlschrank hervorgefischt hatte. Wollte jemand mit ihrem Schicksal spielen? Wenckes Fäden verflechten?
»Der Name Frank-Peter Götze sagt Ihnen nicht zufällig etwas?«
Die Kosian hob die Augenbrauen in die Höhe, das konnte sie hervorragend. »Ist das hier ein Quiz, oder was? Natürlich kenne ich Götze! Jeder, der sich mit Kriminalität beschäftigt, kennt diesen Mann. Er hat den Sohn eines wichtigen Staatsmannes auf dem Gewissen. Aber was hat das mit dem Referat zu tun?«
»Nichts«, gab Wencke zu. »Ich kannte ihn persönlich. Ich war damals zur Ausbildung in Bad Iburg. Jan Hüffart war mein erster Leichenfund.«
»Die erste Leiche vergisst man nie.« Da leierte sie aber einen Standardsatz erster Güte herunter. »Und Kinder sind extrem hart. Besonders als Mutter reagiert man da wohl sehr sensibel.« Die Kosian ritt immer wieder gern auf Wenckes Mutterdasein herum. Wahrscheinlich aus Neid, schließlich war sie bereitszwei Jahre älter und hatte somit den entscheidenden Zeitraum zur Familienplanung vermutlich verpasst. Dafür hatte sie Karriere gemacht. Und Zeit gehabt, sich mit Themen wie der nordgermanischen Göttergeschichte ausführlich zu befassen. War doch auch was.
»Götze wurde vor ein paar Wochen aus der Haft entlassen.«
»Und?«
»Es kann sein, dass er mich kontaktieren will.«
»Inwiefern?«
»Ich habe gestern in meinem Briefkasten ein anonymes Schreiben gefunden, eventuell stammt es von ihm.«
Die Muskeln in Kosians Gesicht, die für skeptische Blicke zuständig waren, schienen heute bestens in Form zu sein. »Keine Bange, diese Typen rächen sich bestimmt nicht an harmlosen Polizeischülerinnen, die bestenfalls am Rande beteiligt waren.«
Da hatte sie wohl nicht ganz unrecht.
»Und was wollen Sie jetzt konkret von mir? So ganz zufällig haben Sie mir diese Sache wahrscheinlich nicht erzählt.«
»Ich hätte gern Ihr Einverständnis, die alten Akten aus dem Archiv anzufordern und Erkundigungen über Götzes derzeitigen Aufenthaltsort einzuholen.«
»Wollen Sie diesem Mistkerl einen Besuch abstatten?«
»Mir wäre einfach nur lieb, wenn ich ihn irgendwo verorten könnte.« Doch in Wahrheit wusste Wencke genau: Wenn er inzwischen nicht gerade am anderen Ende der Welt lebte, dann würde sie ihn heute noch finden. Sie musste wissen, ob er dieses Foto und die Notizen verschickt hatte. Und wenn ja, was zum Teufel er damit bezweckte.
»Haben Sie mit der Island-Sache nicht genug an den Hacken?«
»Keine Angst, ich mache das in meiner Freizeit.«
»Was wollen Sie damit erreichen?«
»Ich würde das Ganze gern noch mal aus fallanalytischerSicht beleuchten. Damals gab es diese Methode schließlich noch nicht.« Die Kosian sagte nichts, doch ihr Gesicht verriet eine Spur von Neugier. »Der Junge wurde entführt, einen Tag später erstochen und seine Leiche auf einem frei schwimmenden Boot mitten in einem See drapiert. Ist es nicht unsere Arbeit herauszufinden, warum der Mörder so und nicht anders gehandelt hat?
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