Götterfall
private Situation wenig glücklich sei.«
»So, hat sie das gesagt?«
»Sie hat mir auch Fotos gezeigt, von Ihnen und von Emil. Toller Junge, muss ich schon sagen. Ich war auch ganz erleichtert, denn auf den Bildern sahen Sie dann doch nicht so depressiv aus, wie ich befürchtet hatte. Jedenfalls haben mich die Erzählungen über Ihren Beruf neugierig gemacht, denn von der Arbeit der Profiler habe ich bislang nur aus US-Fernsehserien erfahren, das schien mir aber wenig realistisch. Und da wir für unser Symposium ja auch einen Vertreter der Exekutive dabeihaben wollten, ging eine Einladung an Ihre Abteilung. So einfach ist das.« Jetzt aß er den Keks. Oder besser, er lutschte ihn. Diese Angewohnheit und die Tatsache, dass er ein abgelegter Liebhaber ihrer Mutter war, waren die einzigen Dinge, die Wencke an diesem Mann störten. Ansonsten war er fabelhaft.
»Woher können Sie eigentlich so gut Deutsch?«
»Ich habe in Deutschland studiert und anschließend noch einige Jahre dort gearbeitet. Das war eine schöne Zeit, aber Island ist meine Heimat, ich liebe die Naturgewalten und die Mentalität der Menschen. Und Sie? Wie gefällt es Ihnen hier?«
»Ich fürchte, ich habe noch nicht so viel gesehen, auch wenn sich meine Füße anfühlen, als hätten wir bereits einmal die Insel umrundet.«
»Wir müssen weiter«, rief Lena Jacobi ihnen winkend zu. Wencke schaute sich um, außer ihnen war weit und breit kein bekanntes Gesicht mehr zu sehen. Sie war wieder mal die, auf die gewartet werden musste.
Jarle erhob sich. »Jetzt haben Sie gar keinen einzigen Schluck getrunken.«
»Ich bin wach genug!«, versicherte Wencke.
»Dann sollten Sie zum Bus. Wir sehen uns gleich in der Kirche, ich werde den Abend moderieren. Und später ergibt sich ja bestimmt eine Gelegenheit, dass wir noch ein bisschen quatschen. Ich würde mich freuen!«
»Ich mich auch«, entgegnete Wencke. Doch ob das wirklich stimmte, wusste sie nicht.
[14. Juni, 18.20 Uhr, Hallgrímskirkja, Reykjavik]
Gerade als alle in die Musik vertieft waren, den etwas zu nervösen Holzbläsern lauschten, die im letzten Satz von Jón Leifs’ choreografischem Drama Baldr zum Höhepunkt strebten, wischte Silvie ihrem Mann den Mund ab. Klassische Musik ließ Karl immer sabbern.
Im Inneren der Hallgrímskirkja stießen die klaren Linien des Kirchenschiffs weit über Silvies Scheitel zusammen. Genau wie die sphärischen Klänge des Isländischen Sinfonieorchesters, welche sich im Altarraum ausbreiteten und Melodien fabrizierten, die dem Himmel näher zu sein schienen als den Zuhörern. Hohe, etwas quäkende Töne, ähnlich dem Geschrei der Möwen unten im Hafen, dann setzten die Bassinstrumente ein und erzeugten ein abgrundtiefes Wabern. Der Komponist hatte es verstanden, die besondere Atmosphäre seiner Heimat einzufangen. Nach Wagner klang das absolut nicht, selbst wenn die vertonten altgermanischen Mythen der deutschen Nibelungensage ähnlich waren.
Doch Bayreuth hatte mit Reykjavik rein gar nichts zu tun. Diese Stadt hier besaß vergleichsweise wenig Liebreiz, lag spröde und karg eingebettet zwischen rotgrauen Hügeln. Um ehrlich zu sein: nicht Silvies Ding. Sie vermisste Blumenkästen an den Fenstern und Bäume und geschichtsträchtige Architektur.Schon in dieser Kirche, die sich ja immerhin als Wahrzeichen der isländischen Hauptstadt bezeichnete, wurde jeglicher klerikale Pomp vermieden.
Silvie saß auf einer der vorderen Holzbänke, wurde geblendet von der ab und zu grell durch die farblosen Kirchenfenster scheinenden Abendsonne und nutzte die Gelegenheit, um die Tabletten herauszuholen. Sie löste zwei Pillen im mitgebrachten Plastikbecher in Wasser auf und führte das Medikament an Karls Lippen, gerade als die Pauke das Ende der Welten herbeitrommelte. Sie schaute sich um, glücklicherweise schien niemand etwas mitbekommen zu haben.
Musik, feine Musik, so wie diese hier, wirkte aufmunternd auf Karl, der sonst irgendwie immer lethargisch war, manchmal bewegungslos in seinem Rollstuhl saß und nicht so recht wusste, was er sagte. Violinen und Querflöten, Harfen und Klaviere brachten ihn dazu, sich im Hier und Jetzt wohlzufühlen. Dann lächelte er selig. Und sabberte eben.
Spucke am Mundwinkel war, wenn man eine Rede zu halten hatte, ein Desaster. Ungünstig also, dass bei den meisten seiner öffentlichen Auftritte Sinfonieorchester zugegen waren.
Noch fünf Minuten. Bis dahin wirkte das Mittel hoffentlich.
»Frau Hüffart?«, sprach die junge Frau,
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