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Götterfall

Götterfall

Titel: Götterfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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sauber, die Brille nicht verschmiert. Ja, so würde es gehen.
    Dr. Yngvisson, der als Moderator bislang anständig durch den Abend geführt hatte, kündigte in englischer Sprache den Höhepunkt der Veranstaltung an. Die üblichen Daten aus dem Leben ihres Mannes wurden aneinandergereiht: ein langjähriger Parteivorsitzender bis zum Regierungswechsel 1998, der sich um die Realisierung der deutschen Einheit verdient gemacht und so auch maßgeblich das neue Europa mitgestaltet hatte und so weiter und so fort. Auch sie wurde erwähnt, nur am Rande, aber das reichte Silvie vollkommen, sie hatte kein Problem damit, auf die Rolle der Ehefrau von Karl Hüffart reduziert zu werden. Als sie den Rollstuhl über eine kleine Rampe auf das Podest hinter dem Rednerpult lenkte, setzte Silvie ihr hauptberufliches Lächeln auf, nicht zu offen, nicht zu fröhlich, schließlich war es eine große Verantwortung, die sie vor sich herschob, das sollte man erkennen können.
    »Please welcome the highly esteemed co-creator of modern politics in Europe: Dr. Karl Hüffart.« Die Leute erhoben sich von den Plätzen. Das taten sie immer. Standen, klatschten, lächelten, manche mit glänzenden Augen. Silvie liebte diese Momente.
    Die heikelste Phase folgte gleich im Anschluss, wenn Karl direkte Fragen gestellt wurden. Da fühlte er sich oft überrumpelt und brachte keinen Ton heraus. Silvie half ihm seit ein paar Jahren mit einem recht simplen Trick aus dieser Situation. Es war alles eine Sache der Übung.
    Sie stellte das Mikrofon an und bog die elastische Halterung in Karls Mundhöhe.
    »Wie gefällt Ihnen Island?«, fragte Yngvisson in lupenreinem Deutsch.
    »Oh, ich glaube, dazu kann Ihnen meine Frau mehr sagen.« Bravo, Karl wusste, was er zu tun hatte. Diese Antwort passte bei jeder Gelegenheit. Der Moderator übersetzte, die Menge lachte, alles wie gehabt.
    Keine Sekunde später hatte Silvie das Mikrofon vom Rednerpult gelöst. Und wenn sie es erst einmal in ihrer Hand hielt, war es wesentlich einfacher, den Verlauf des Gespräches zu kontrollieren. »Island ist einfach erstaunlich. Karl und ich haben eben noch darüber gesprochen, wie unglaublich gut diese Musik all die Schönheit des Landes eingefangen hat. Einen herzlichen Dank von uns an das Sinfonieorchester für diese fabelhafte Darbietung!« Natürlich klatschten jetzt wieder alle, die Musiker erhoben sich, applaudierten ihrerseits wieder dem Dirigenten, der sich natürlich gern und ausgiebig verbeugte, das alles zog sich immer weiter in die Länge – genauso war es geplant. Es gab immer einen Zeitplan, der einzuhalten war. Und je länger der Zwischenapplaus dauerte, desto weniger Fragen konnte man Karl stellen. Das passte Yngvisson offensichtlich nicht, doch er lächelte tapfer.
    Es schien eine Art geheimen Wettbewerb zu geben, bei dem es darum ging, Karl Hüffart in einer öffentlichen Veranstaltung als dement zu entlarven. Egal wo sie bislang gewesen waren, ob im heimatlichen Bad Iburg, in Berlin, London, Sydney oder sogar in einem tibetanischen Kloster: Immer hatte Silvie das Gefühl, die Journalisten hechelten danach, ihren Mann bloßzustellen. Luden ihn als Ehrengast und behandelten ihn wie einen Vollidioten. Dabei war Karl alles andere als das. Gut, er hatte Schlimmes erlebt und war natürlich schon ein paar Jahre älter. Doch er war kein Idiot! Niemand konnte das besser beurteilen als seine Frau, oder?
    Irgendwann setzten sich alle wieder und Yngvisson konntefortfahren. »Herr Dr. Hüffart, wie Sie wissen, ist das Thema unseres Kongresses der Zusammenhang zwischen altgermanischen Mythen und moderner Politik. Sie haben sich dankenswerterweise dazu bereit erklärt, einen entsprechenden Vortrag zu halten. Doch bevor wir ganz gespannt Ihren Worten lauschen, will ich Sie erst einmal spontan um Ihre Meinung bitten: Haben die alten Geschichten auch heute noch Auswirkungen auf uns, auf unsere Gesellschaft?«
    Diese Frage war unverfänglich, also hielt Silvie das Mikrofon an Karls Lippen. Er räusperte sich. Nun, das würde er schaffen. Gesellschaft war ein Stichwort, das sie hundertmal trainiert hatten.
    »Die Gesellschaft wandelt sich immer.« Karl sprach schön langsam, betonte jede Silbe, was seiner Rede etwas Gewichtiges gab. »Sie ist nicht mehr das, was sie in meiner Kindheit war, und wird sich auch noch weiterhin entwickeln, bis der da oben …« – wunderbar, Karl machte die richtige Bewegung und reckte seinen rechten Arm in die Höhe, um ins Nirgendwo zu zeigen –

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