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Götterfall

Götterfall

Titel: Götterfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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wurde, dass er den tristen Ententeich und zwei Parkbankbewohner beim Streiten und Dosenbiertrinken beobachten musste?
    Jetzt gerade war das Bild ein anderes: Karl Hüffart saß neben der Balustrade in der Nähe des Liftes und betrachtete versonnen einige Postkarten auf dem Drehständer, nichts Besonderes. Aus der Entfernung konnte man erkennen, dass ein paar Papageientaucher darauf abgebildet waren, diese schwarz-weißen Vögel mit den orangefarbenen Schnäbeln, die es wohl fast nur auf Island gab. Immer wieder drehte er das Kartenkarussell, und sobald die Fotos mit den gefiederten Freunden auftauchten, lächelte er – soweit Wencke es beurteilen konnte, war es daserste Mal an diesem Tag, dass er sich an etwas so erfreute. »Noch mal!«, rief er, bevor Silvie ihm die Hand auf den Mund legte wie eine Kindergärtnerin, die ein schlimmes Wort zurückhalten will. Sie hatte ein Glas Wasser in der Hand, welches sie ihm zusammen mit einer Tablette verabreichte. Er schluckte brav und sie streichelte seine Schulter.
    Wie viel ist von dir noch übrig, Hüffart?, dachte Wencke. Wo ist der harte, unerbittliche Mann geblieben, der vor zwanzig Jahren seinen Sohn geopfert hat, damit seine schmierige Politik nicht ans Tageslicht kommt? Die Brauen waren buschig, aber auffallend gepflegt zurechtgestutzt. Er lächelte fast charmant und sah aus wie ein liebenswerter, zerstreuter, harmloser Greis – überhaupt nicht wie der, der er einmal gewesen war. Karl Hüffart schien alles Strenge, Strebsame, Furchteinflößende im Laufe der letzten Jahre abgelegt zu haben. Gestern, im Flugzeug, hatte er geklungen, als wäre er selbst zwölf Jahre alt und als sei die Erinnerung an Jan das Einzige, was in seinem in Auflösung befindlichen Geist noch fassbar war. Ich will mit Jan spielen …
    Das hatte Wencke berührt, auch wenn sie sich gern dagegen gewehrt hätte. Nein, Mitleid wollte sie nicht für ihn empfinden. Denn sollte von dem, was Doro in ihren Notizen angedeutet hatte, nur die Hälfte stimmen, wäre Empathie für Hüffart völlig unangebracht. Selbst wenn er heute bloß noch ein alter Mann war, der mit kindlicher Begeisterung ein paar Vogelbilder betrachtete. Und sich von seiner Ehefrau mit Tabletten füttern ließ.
    Plötzlich vibrierte Wenckes Handy im Rucksack. Auf dem Display leuchtete eine irrsinnig lange Nummer, die mit 00345 begann – die internationale Vorwahl von Island. »Ja bitte?«
    »Wencke?« Das war Frankies Stimme, sie klang gehetzt. »Hey, du musst mir helfen, verdammte Scheiße.«
    Wencke nahm ihre Kaffeetasse in die Hand und verließ die Cafeteria durch die Drehtür. Jetzt stand sie draußen, ließ sichein bisschen nass regnen, fror noch dazu, doch wenigstens bekam Silvie auf diese Weise nicht mit, wen sie gerade am Apparat hatte. »Wie soll ausgerechnet ich dir helfen können?« Sie hörte einen Motor brummen, Frankie schien in einem Auto zu sitzen. »Wo steckst du eigentlich?«
    »Die wollten mich abschieben, ich sollte heute noch ins Flugzeug und zurück nach Deutschland.«
    »Nach dem, was du dir gestern erlaubt hast, wundert mich das nicht wirklich.«
    »Was hab ich denn Schlimmes getan?«
    »Du hast einem Haufen Leute Todesangst eingejagt. Mir auch, nebenbei bemerkt. Schon vergessen, dass du mich beinah erwürgt hast? Mein Hals ist gefleckt wie bei einer Giraffe. Ich habe also gar keine Lust, dir zu helfen.«
    »Sorry, Wencke.« Das klang nach gar nichts, am allerwenigsten nach einer Entschuldigung.
    »Mir ist es sogar recht, dich hinter verschlossenen Türen zu wissen.«
    »Da bin ich aber inzwischen gar nicht mehr.«
    Wencke wurde ganz anders. »Haben sie dich freigelassen?«
    »Nein, ich bin abgehauen«, erklärte er aufgeregt und verschluckte sich direkt bei den ersten Silben. Nach einigem Röcheln schaffte er es weiterzureden: »Und du musst mir jetzt helfen!«
    »Bist du wahnsinnig? In Deutschland hätten sie dich wahrscheinlich laufen lassen, aber wenn du hier wieder Mist baust … Hast du jemandem geschadet?«
    »Ich denke, ja.«
    »Wie schlimm ist es?«
    »Ich konnte nicht zimperlich sein …« Wieder unterbrach ihn sein eigenes Husten. »Es war meine einzige Chance.«
    »Die einzige Chance wofür? Dein Leben ein zweites Mal gründlich zu ruinieren?«
    »Die einzige Chance, die Wahrheit herauszufinden, Wencke! Das willst du doch auch, oder nicht? Haben wir nicht dasselbe Ziel?«
    Wenn außer ihr derzeit sieben Milliarden Menschen auf diesem Planeten lebten, gab es wahrscheinlich 6 999 999 999

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