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Götterfall

Götterfall

Titel: Götterfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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»… bis der da oben beschließt, dass es genug gewesen ist.«
    Wieder hatte er die Lacher auf seiner Seite. Silvie war stolz.
    Yngvisson stieg gleich darauf ein. »Sie denken also, dass unsere kulturellen Wurzeln zwar gegeben sind, wir aber nicht voraussehen können, wohin uns das alles führt?«
    »Ja«, sagte Karl und nickte ernsthaft. Das war die Gelegenheit für Silvie, wieder unauffällig das Wort an sich zu reißen.
    »Mein Mann und ich haben heute bei unserem hochinteressanten Rundgang durch Reykjavik die Handschriftensammlung mit dem kostbaren Codex Regius betrachten dürfen. Glauben Sie uns, dieses Erlebnis werden wir in Erinnerung behalten.«
    Ein langer Satz, der wieder übersetzt werden musste. Es lief bestens, gleich würde der Vortrag beginnen, die fünf Minuten,die für das freie Gespräch angesetzt worden waren, mussten so gut wie vorbei sein. Die Menschen würden trotzdem hochzufrieden nach Hause gehen. Sobald man schwärmte, wie eindrucksvoll ihre Heimat sei und dass man diesen Tag niemals vergessen werde, war ihr Bedarf gedeckt.
    Als Moderator war Yngvisson in seinem Element. » Codex Regius – Frau Hüffart, da geben Sie mir ein wunderbares Stichwort, denn in diesem alten Schriftstück finden wir ja unter anderem auch die Geschichte von der Ermordung Baldrs, deren Vertonung wir eben hören durften.« Es gab eine kleine Überleitung auf Englisch, in der er erklärte, dass man sich dem Thema des eben gehörten Musikstücks widmen wolle. »Baldr, der Sohn Odins und Friggs, der Gott der Schönheit, der Gerechtigkeit und des Lichts, er wurde grausam ermordet.«
    Was sollte dieser Ausflug in die Götterwelt? Musste das jetzt sein? Die Zeit war knapp genug.
    Doch Yngvisson schnipste und irgendwo im Nirgendwo stellte ein Techniker den Beamer an. Ein Bild wurde großflächig auf eine plötzlich entrollte Leinwand projiziert, ein altes Bild, wahrscheinlich ein Kupferstich. Silvie hielt den Atem an.
    »Wir Isländer lieben den Mythos um Baldrs Tod«, formulierte Yngvisson wieder auf Deutsch, trat auf das Pult zu und drehte den Rollstuhl leicht, sodass Karls Blick unweigerlich auf die Abbildung treffen musste. Silvie konnte es nicht verhindern: Ihr Mann war wie elektrisiert. Der Projektor zeigte einen toten Jungen, auf einem Floß liegend, welches im Wasser schwamm. »Kennen Sie die Sage? Die Familie des toten Göttersohnes, der durch eine üble List von einem Mistelzweig erdolcht worden war, wollte ihren geliebten Bruder und Sohn aus dem Totenreich zurückholen. Doch dies sollte ihr nur gelingen, wenn alle Lebewesen auf der Welt um Baldr weinten.« Das Lächeln des Moderators machte alles nur noch schlimmer, fand Silvie. »Und so weinten die Menschen und die Tiere, die Pflanzen unddie Götter, die Riesen und sogar die Steine um den toten Jungen.«
    »Ist … ist das Jan?«, fragte Karl und seine Stimme hatte genau den Unterton, den sie jetzt, in diesem Augenblick, auf keinen Fall bekommen durfte. Wenn die Stimme des großen Karl Hüffart ins Weinerliche abdriftete, war er verloren. Dann wurde er innerhalb weniger Sekunden zum Häufchen Elend. Etwas, das keine Kamera der Welt zu Gesicht bekommen durfte. Was sollte Silvie bloß tun?
    »Leider hatte sich Baldrs eigentlicher Mörder – der verschlagene Loki – in einen Troll verwandelt und vergoss als Einziger keine noch so kleine Träne. Aus diesem Grunde musste Baldr, der Sohn des Gottes Odin, im Totenreich bleiben.«
    Yngvisson schnipste wieder, nun wurde das Bild noch vergrößert und fokussierte das leblose Gesicht des Jungen. »Doch man sagt, dass Baldr am Ende aller Tage zurückkommen wird, um für Gerechtigkeit zu sorgen.«
    Karl starrte auf die leuchtende Abbildung. Er war hellwach. Sein Zustand wirkte bedrohlich. Karl Hüffart hatte vieles vergessen, was ihm einmal wichtig gewesen war, doch seinen Sohn Jan behielt er stets in seiner Erinnerung, als habe diese sich unauflösbar mit seinem Hirn verwoben. Meistens hatte Karl keine Ahnung mehr, was mit Jan passiert war. Doch ab und zu, ausgelöst durch die Stimulation seiner Sinne, verstand er wieder, dass es diesen Mord gegeben hatte, diesen schrecklichen Mord an seinem einzigen Sohn.
    Yngvisson unterbrach seine Märchenstunde und erkannte, was er angerichtet hatte. »Was ist mit Ihnen, Herr Dr. Hüffart? Geht es Ihnen nicht gut?«
    »Jan ist im Totenreich«, antwortete Karl lahm. »Er ist tot.« Silvie sah, was sich hinter den Brillengläsern tat, gleich würden die Augen überlaufen. Sie musste

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