Götterfall
Menschen, mit denen sie lieber gemeinsame Sache gemacht hätte. Aber er hatte recht. Wencke musste sich mit Frankie zusammentun.
»Wir beide wissen, ich habe den kleinen Jan Hüffart nicht ermordet und Doro war dieser Sache auf der Spur, bevor man sie kaltgemacht hat.« Das Brummen im Hintergrund wurde lauter, als würde gerade ein Motor zur Höchstleistung gezwungen.
»Von wo aus rufst du eigentlich an?«
»Der Fahrer des Gefängnistransporters hat sein Handy im Auto liegen lassen. Und deine Nummer hatte ich ja noch …«
»Schmeiß das Ding weg!«, unterbrach Wencke. »Die können dich orten. Und die werden herausfinden, dass du mit mir telefoniert hast.«
»Wie sollen sie das denn machen?«
»Frankie, vergiss nicht, du warst jahrelang weg vom Fenster, inzwischen machen die Sachen, dagegen ist Orwells Big Brother ein taubstummer Blindfisch.«
»Können wir uns treffen?«
Sie hatte befürchtet, dass er das fragen würde. Weil sie wusste, ihre Antwort hätte mit gesundem Menschenverstand nicht viel zu tun. »Heute ist es zu gefährlich. Wenn du einen von ihnen verletzt hast, suchen sie dich bestimmt mit der ganzen Mannschaft.« Wencke zog den Reiseplan aus dem Rucksack. »Pass auf, wir sind morgen Vormittag in östlicher Richtung unterwegs. Um zwölf Uhr ist eine Passage auf dem Jökulsárlón geplant, das ist ein Gletschersee im Süden der Insel. Ich könnte mir vorstellen, dass sich da eine Gelegenheit ergibt, ungestört zu reden.«
»Okay, morgen Mittag, das werde ich schaffen.«
»Und schmeiß das Handy jetzt sofort aus dem Fenster, verstanden?« Aber er hatte schon aufgelegt. Wencke musste tief durchatmen. Jetzt steckte sie mittendrin, ab sofort war diese Aktion hier kaum noch mit einem offiziellen Auftrag zu legitimieren. Sie würde sich morgen mit einem entlaufenen Straftäter treffen, wenn das herauskam, könnte es ungemütlich werden. Sie zog die Jeansjacke enger, doch inzwischen war sie so durchfeuchtet und abgekühlt, dass ihr dadurch keine Spur wärmer wurde.
»Wenn Sie möchten, leihe ich Ihnen meinen Islandpullover«, hörte sie eine Männerstimme nur wenige Meter hinter sich. Mist! Wencke hatte nicht damit gerechnet, dass außer ihr noch jemand so selbstquälerisch veranlagt war, sich bei diesem Regen draußen auf die Aussichtsplattform zu stellen. Sie drehte sich um, gut, der Kerl trug ja immerhin eine wetterfeste Jacke, Mütze und Schal. Hatte er etwas von dem Telefonat mitbekommen? Er grinste sie an. Irgendwie kam er ihr bekannt vor.
»Habe eben einen im Touristenshop unten gekauft.« Er reichte ihr eine Tüte, in der sich ein dickes, dunkelblaues Strickpaket befand. »Schurwolle, kratzt ein bisschen, hält aber schön warm.« Sein leichter Akzent verriet, dass er kein Deutscher war, eventuell sogar Einheimischer, aber kauften Isländer sich Strickpullis in überteuerten Souvenirshops?
»Kennen wir uns?«, fragte Wencke und machte keine Anstalten, sich das Teil überzuziehen.
»Nur indirekt. Ich bin Dr. Yngvisson und arbeite bei AlumIn-Terra unter anderem in der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit …«
»Sie sind derjenige, der das Ganze hier organisiert?«
»Genau der bin ich. Ich hoffe, Sie fühlen sich wohl in meiner Heimat.« Er reichte ihr die Hand. »Bis auf das Wetter natürlich,aber da machen Sie sich keine Sorgen, Sonne und Wolken wechseln hier schneller, als Sie einen Regenschirm aufspannen können.«
Das Wetter war Wencke momentan herzlich egal. Sie hatte andere Sorgen. »Hat Lena Jacobi Ihnen erzählt, dass ich mit Ihnen sprechen möchte?«
»Das hat sie. Und ich freue mich, Sie kennenzulernen. Gehen wir rein?«
»Ist wohl besser.« Wencke griff nach ihrer Kaffeetasse.
»Lassen Sie das stehen, ist bestimmt inzwischen kalt und vom Regen verdünnt. Ich spendiere Ihnen einen frischen Kaffee, wenn Sie möchten.«
In der Drehtür gerieten sie für Wenckes Geschmack etwas zu nah aneinander und ganz geheuer war ihr auch nicht, dass dieser Yngvisson ausgerechnet charmant und zuvorkommend sein musste. Hätte sie die Wahl gehabt, sie hätte sich als Verantwortlichen dieses Konzerns lieber einen Unsympathen gewünscht, denen war leichter zu misstrauen.
Drinnen zog sie sich die Jacke aus, das T-Shirt darunter war auch feucht, aber das war gerade noch zu ertragen. »Ich denke, ich kann auf Ihren Pullover verzichten, aber vielen Dank für das Angebot.« Wahrscheinlich wäre sie in dem Teil irgendwo zwischen Elchmuster und Rundkragen verlorengegangen, dieser Mann war so groß
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