Götterfall
Götzemussten mitmachen, wie hätte das sonst gewirkt: Ein Haufen Leute lutschten begeistert auf gefrorenem Wasser herum, während sie beide stur der Bugwelle hinterherblickten?
Gerade als der Bootführer voller Stolz erzählte, er persönlich habe bei den Dreharbeiten für Tomb Raider der im Gletscherwasser schwimmenden Angelina Jolie den Rücken wieder trocken rubbeln dürfen, entdeckte Wencke zwischen all den asiatischen Gesichtern plötzlich eine missmutige Fratze mit rotblondem Dreitagebart. Fast hätte sie sich an ihrem Eisklumpen verschluckt. Jetzt war die Sache doch wohl klar, oder? Der Typ musste ihnen wirklich auf den Fersen sein.
Alle lachten über die Story, weil Brad Pitt nun angeblich eifersüchtig auf den isländischen Touristenführer war, nur der Mann im dunkelroten Anorak verzog keine Miene. Er sprach mit niemandem, betrachtete auch nicht die Eisberge und trug keinen Fotoapparat um den Hals. Die Frage war nur: Hatte er es auf Götze oder auf Wencke abgesehen?
Sie musste auf jeden Fall wachsam bleiben. Und es war besser, wenn Götze nichts mitbekam, sein unzähmbares Temperament war auf diesem wackeligen Untergrund schlecht aufgehoben.
»Was ist los?«, fragte Götze. »Du glaubst mir auch nicht, stimmt’s? Du denkst auch, ich hätte den Jungen …« Ja, manchmal dachte Wencke das. Und manchmal nicht. Es war ein kleiner Kampf in ihrem Innern. Ihr Verstand plädierte klar für schuldig, denn so wie Götze sich in den letzten Stunden gebärdete, war von ihm alles zu erwarten. Ihre Intuition hielt dagegen: Nein, er hat es nicht getan. Er ist einer der unangenehmsten Menschen, die mir je über den Weg gelaufen sind, aber er hat Jan nicht getötet. Weil … ja, warum? Da ließ Wenckes Bauchgefühl sie leider im Stich.
»Wusstest du eigentlich, dass Doro schwanger war?«
Er starrte sie an. »Stand das auch in den Notizen?«
Wencke nickte. »Sie war im vierten Monat. Und sie hat dich als Vater angegeben.« Götze antwortete nicht, stattdessen verstärkte sich sein Griff am Geländer, die Fingerkuppen waren weißer als der Gletscher vor ihnen. Ob die Wut ihn elektrisierte?
Der Vortrag für die Touristen wurde fortgesetzt: »This is currently the biggest sculpture on Jökulsárlón. His journey across the lake usually takes between four and ten years.« Der angesprochene Eisgigant dümpelte zwanzig Meter von ihnen entfernt in aller Seelenruhe vor sich hin und alle drängten zum Bug, um auch ja nahe heranzukommen. Götze wurde zur Seite geschoben, es war eng und unübersichtlich, absolut nicht die Gelegenheit, das Gespräch weiterzuführen.
Der junge Mann warnte gerade, man dürfe die schwimmenden Berge nicht zu dicht passieren, da diese sich von einem Moment auf den anderen plötzlich drehen konnten und der so entstehende Sog das Boot zum Kentern bringen würde, als Wencke plötzlich fremde Hände an ihren Beinen fühlte, fest legten sich Finger um ihren Oberschenkel. »Hey, was soll das?«, rief sie und versuchte sich umzudrehen, um den Mistkerl zu sehen, der sie auf einmal so unnachgiebig im Griff hielt, doch er war schneller – augenblicklich fühlte sie sich in die Luft gehoben und schrie um Hilfe. Im selben Moment hatte der Angreifer Wencke schon auf die Reling gehievt. Sie sah das sprudelnde Wasser und die rotierende Schiffsschraube direkt unter sich. Es blieb keine Sekunde für klare Gedanken, blindlings versuchte Wencke, nach etwas zu greifen. In dem Moment, als sie ein Tau erwischte, das locker um einen Haken geschlungen war, ließ ein letzter Stoß Wencke vollends auf die andere Seite kippen.
Sie fiel.
Ein winziger und zugleich endloser Augenblick, in dem sie mit dem rauen, dicken Seil in der linken Hand nach unten raste, begleitet von Schreien vom Deck. Dann streiften ihre Beine dieBordwand, stemmten sich dagegen und das Seil straffte sich. Für ein paar Sekunden hing sie wie ein Bergsteiger beinahe waagerecht über den rotierenden Stahlblättern und spürte das Wasser zwischen Schwimmweste und Rücken spritzen.
Nach der ersten reflexartigen Reaktion wurde Wencke von nackter Angst geflutet. Hier legte es jemand darauf an, sie umzubringen. Und wenn sie sich nicht weiterbewegte, zur Seite, weg von den Schiffsschrauben –
Doch sie war wie gelähmt.
Über ihr tauchten panische Gesichter auf, weder Götze noch der Dreitagebart waren dabei. Eine schlanke Japanerin streckte helfend einen Arm aus, der meilenweit entfernt schien. Im gleichen Moment spürte Wencke, wie das Tau langsam
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