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Götterfall

Götterfall

Titel: Götterfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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nachgab. Es rutschte Zentimeter für Zentimeter nach unten und sie mit ihm. Gleich würde sie in diesem See landen, im geschmolzenen Wasser eines Jahrtausende alten Gletschers, von hartem Metall in kleine Einzelteile zerlegt. Emil, dachte sie. Axel. Bitte nicht!
    Ihre Handflächen brannten, die Fasern des Taus versenkten sich messerscharf in ihre Haut, Arme und Beine zitterten. Lange konnte sie sich nicht mehr halten. Inzwischen schien die Nachricht, dass jemand über Bord gegangen war, bis zum Ruderhaus durchgedrungen zu sein, der Motor wurde leiser, die Fahrt merklich langsamer. Wencke schob die Fußsohlen an der Außenwand entlang, als würde sie darauf spazieren, rutschte jedoch bei jedem dritten Schritt ab, was sofort mit einem Ruck in die Tiefe quittiert wurde. Gleich darauf brach alles zusammen, der Motor verstummte, das Tau gab komplett nach, ihre Finger verloren die Kraft und ihre Füße den Halt, ihre Willensstärke hatte keine Reserven mehr und Wencke tauchte in das kälteste Element ein, das sie je umfangen hatte. Ihr blieb nicht nur die Luft weg, sondern auch das Hirn, es schien ausgeknipst, klack, nicht funktionsfähig bei Temperaturen dieser Art.
    Es war still da unten im Jökulsárlón. Tief und still und wahrhaftig blau.
    Bis die orangefarbene Weste sie wieder nach oben riss, zurück in das, was man die Gegenwart nannte.
    Mein Gott, war ihr kalt.
    Sie hörte ihr eigenes Herz.
    Immerhin: Es schlug.
    [15. Juni, 12.45 Uhr, Jökulsárlón, Parkplatz , Island]
    Im größten Chaos steckt oft die größte Chance. Wenn alles verquer läuft, die Leute austicken, panisch werden, durcheinanderrennen, dann bist du  – wenn du trotzdem einen klaren Kopf behältst – der Gewinner.
    Frankie wurde vom Blaulicht gestreift, gerade schoben sie Wencke auf einer Trage ins Innere des Krankenwagens. Davon sehen konnte er nichts, zu viele Gaffer. Dabei gab es nichts Weltbewegendes zu glotzen, dieses zähe Weibsbild war doch noch immer ganz und lebendig, ein unverschämtes Glück hatte sie gehabt. Natürlich macht es so einen Körper auch kaputt, wenn er mehr als eine Minute bewegungslos im Eiswasser schwimmt, bevor er wie ein nasser Sack über die luftgefüllte Seite eines Schlauchbootes gezogen werden kann. Die meisten waren sich sicher: Die Frau ist tot. Schau mal, wie blass die ist! Diese blauen Lippen! Die blutigen Hände! Die muss tot sein! Aber Frankie war von Anfang an klar gewesen, Wencke überlebt so etwas.
    Jetzt erst recht, wo sie alles zu wissen glaubte über den Fall Jan Hüffart. Und über Doro, das Kind, wahrscheinlich auch über das, was damals mit Doro passiert war. Da würde sie doch nicht einfach an Unterkühlung sterben!
    Frankie hatte keine Ahnung, was genau passiert war, kurzbevor Wencke über Bord ging, hatte er sie im allgemeinen Gedränge aus den Augen verloren. Da muss noch jemand auf dem Boot gewesen sein, jemand, der kurzen Prozess machen wollte, dabei aber Wencke ziemlich unterschätzt hat. Besser, jetzt schleunigst das Weite zu suchen, fand Frankie, doch den Gefangenentransporter wollte er lieber stehen lassen. Bestimmt bot sich hier die Gelegenheit für einen Fahrzeugwechsel, es gab schließlich immer ein paar idiotische Touristen, die vor lauter »Boah, guck mal, Schatzi, wie schön« vergaßen, das Mietauto abzuschließen. Er machte sich auf die Suche. Schlich harmlos über die Parkfläche. Testete ab und zu, ob eine Tür aufging, hatte aber Pech. Noch eine Reihe nichtssagender Karren weiter hinten, direkt am Ufer, na dann … Da, der alte, rostige Nissan zum Beispiel hatte mit Sicherheit keine Schickimicki-Zentralverriegelung, da war die Wahrscheinlichkeit groß, von der Beifahrerseite her in den Wagen zu kommen, weil heute keine Sau mehr dran denkt, den kleinen schwarzen Knopf altmodisch per Hand runterzudrücken, so wie damals, in der Zeit vor dem Knast. Und tatsächlich, es war ein Klacks.
    Im Auto roch es nach Kotze, so schlimm, dass man den Atem anhalten musste. Okay, das musste er in Kauf nehmen. Dafür waren die Zündkabel unter dem altersschwachen Armaturenbrett so simpel kurzzuschließen, dass sogar er als ehemaliger Ossi nach zwanzig Jahren Gesellschaftsabstinenz kein Problem damit hatte. Der Gestank wurde durch die Lüftung stärker, wirklich ekelhaft, doch der Rückwärtsgang flutschte leicht wie eingebuttert und als er dann Gas gab, machte die Karre keine Mätzchen, gerade so, als hätte sie nur darauf gewartet, gemeinsam mit ihm durchzubrennen.
    Dann sah Frankie den

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