Götterfall
manövrieren ließen. Einige von ihnen versuchten trotz Enge und Bewegungseinschränkung Fotos zu knipsen. Ein stinkender Diesel begann zu tuckern, dann verschwanden sie zwischen den Sandbergen.
»In zehn Minuten sind wir dran«, sagte Götze. Beide schauten auf den See und Frankie rauchte mal wieder. Und obwohl sie damit genau dasselbe taten wie alle Sightseeing-Reisenden ringsherum, wurde Wencke das Gefühl nicht los, dass sie nackt und mit Lady-Gaga-Perücke nicht auffälliger gewesen wären.
Sie schaute sich vorsichtig um. Da stand ein Mann im dunkelroten Anorak, vielleicht dreißig Meter entfernt. Ein Typ wie alle anderen, festes Schuhwerk und Funktionsklamotten, doch er drehte den Kopf zur Seite, kaum hatte Wencke ihn im Blick. »Kann es sein, dass wir beobachtet werden?«
Götze zuckte mit den Schultern. »Wenn die mich hätten kriegen wollen, säße ich längst schon wieder hinter Gittern. Die Fluchtmöglichkeiten auf dieser Insel sind verdammt eingeschränkt.«
»Wie hast du die Nacht verbracht?«
»Danke der Nachfrage, komfortabler als die Nacht davor auf dieser scheiß Gefängnispritsche. Ich bin mit dem Wagen ein Stück weit ins Hochland. Da gibt es zum Glück Schotterstraßen, über die keiner fährt, der nicht unbedingt muss. Nach neun Uhr ist mir kein Schwein mehr begegnet. Ich hab dann das Auto irgendwann zwischen zwei Felsen versteckt und auf der Rückbank gepennt. Stell dir vor, als ich am Morgen aufgewacht bin, sehe ich direkt hinter den Felsen so eine Art Bach mit warmem Wasser. Luxusbadewanne ganz für mich allein.« Er atmete den Rauch seiner bis auf einen kümmerlichen Rest abgebrannten Zigarette ein, als wäre es purer Sauerstoff. »Könnt ich mich echt dran gewöhnen.«
»Woher hast du die Klamotten?«
»Gefunden!«
»Erzähl mir nichts!«
»Ich musste tanken, war an so einer Raststätte, die es hier anscheinend alle fünfzig Kilometer an der Straße gibt, hatte aber keine Kohle. Und dann hing da diese Jacke an einem Stuhl …«
»Die Liste deiner Straftaten wird immer länger.«
»Auf so einen scheiß Regenmantel samt Papieren und ein paar Tausend Kronen kommt es doch nicht mehr an, oder? Meine Bewährung ist jetzt ohnehin im Arsch.«
»Da hast du auch wieder recht.« Wencke wandte erneut den Kopf. Der Mann, von dem sie sich beobachtet fühlte, stand jetzt auf der Terrasse der kleinen Hütte, versteckt zwischen einem Pulk von Postkartenkäufern. Warum er ihr verdächtig vorkam, konnte Wencke nicht konkretisieren, so etwas geschah bei ihr immer aus dem Bauch und die Trefferquote war gar nicht soschlecht. Er stand weit entfernt, trotzdem war sie ziemlich sicher, ihn noch nie gesehen zu haben: rotblonder Dreitagebart, mittelgroß und eher stämmig. Sein Gesichtsausdruck war finster, und das mochte es sein, was Wencke stutzig werden ließ: An einem Ort wie diesem guckte niemand finster, dazu war das Panorama einfach zu fantastisch.
Götze schnippte die Kippe weg. »Kann ich mal sehen?« Er schob Wenckes Schal zur Seite. Heute Morgen hatten sich die lila Flecken zu einem braunvioletten Muster verbunden. »Verdammt, sieht das scheiße aus!«
Wencke war sprachlos.
»Hab drüber nachgedacht, über die Sache vorgestern. War keine Glanzleistung …«
»Soll das jetzt eine Entschuldigung sein, oder was?«
»Du bist im Moment die Einzige, der ich halbwegs über den Weg traue.« Als er merkte, dass er noch immer das Thema verfehlte, versuchte er es noch ein bisschen umständlicher: »Keine Ahnung, warum ich ständig überreagiere! Da ist eine Mordswut in mir. Wenn es dann zu viel wird, kribbelt es überall, ich kann das nicht kontrollieren und …«
»Ist okay, Frankie. Verrenk dich bloß nicht!« Wencke wollte keineswegs dem Orden der Barmherzigen Schwestern beitreten, aber sie wusste, mehr als ein einfaches Sorry hätte diesem Mann zu viel abverlangt – und sie wollte heute Wichtigeres von ihm hören.
Das nächste Amphibienboot wurde auf dem sandigen Platz bereitgestellt und sie gingen zur Rampe, an der schon eine Gruppe Japaner wartete. Die Idee mit der Reise auf dem Eissee war nicht schlecht, musste Wencke zugeben. Götze händigte einem rotwangigen Kerl im Ganzkörperoverall die Tickets aus und sie quetschten sich nebeneinander auf einen der unattraktivsten Sitzplätze direkt hinter dem Ruderhaus. Als das Boot bis in die letzte Ritze gefüllt war, fuhren sie über die Schotterpisteund wurden auf den ersten Metern derart durchgeschüttelt, dass alle in heiteres Gelächter
Weitere Kostenlose Bücher