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Götterfall

Götterfall

Titel: Götterfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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Rollstuhl. Er stand verlassen neben einem Felsenstück nahe der Hängebrücke, als wäre Hüffart eben einem Wunderheiler begegnet und fröhlich von dannen spaziert, am besten noch über das Wasser. Tatsächlich, etwazwanzig Meter weiter entdeckte er Karl Hüffart, der am schmalen Zufluss zum Meer stand, die Hand über die Augen gelegt hatte und auf den einzigen Punkt inmitten dieser Postkartenkulisse schaute, wo es überhaupt nichts Besonderes zu sehen gab, nur kargen, angehäuften Sand, Bauwagen und ein paar struppige Grassoden.
    Wo war die Security? Am Flughafen in Deutschland war doch ein ganzes Heer von Sonnenbrillenmännern um den alten Knacker besorgt gewesen, aber jetzt stand da ein wackeliger Senior mutterseelenallein in der Gegend rum.
    Frankie wurde langsamer, er könnte doch … Nein! Die Begegnung mit Hüffart nach so vielen Jahren hatte ihm zugesetzt, beinahe sogar gerührt, was ihn mehr irritierte als seine altbekannte Wut und die Ameisenarmeen. Gefühle dieser Art kamen eigentlich schon seit Jahren für ihn nicht mehr infrage, da war er vollkommen ungeübt.
    Frankie hielt an, auf Tuchfühlung mit Hüffart, er konnte das Gesicht des Mannes erkennen, jede Furche seiner seltsam teigigen Haut, mein Gott, wie hatte er diese Visage verabscheut, wenn sie in den Nachrichten oder der Presse aufgetaucht war. Hätte man ihm im Knast scharfe Gegenstände erlaubt, er hätte Hüffart auf dem Zeitungspapier die Augen ausgekratzt und die Gurgel aufgeschlitzt. Aber jetzt? Ein in aufgedunsene Falten eingebetteter Blick, der harmlos wirkte und in nichts an den mächtigen Staatsmann von früher erinnerte. Das war etwas anderes. Das war eine Gelegenheit.
    Er verließ den Wagen. Ging auf Hüffart zu. Schaute ihn direkt an. Reichte ihm die Hand. »Herr Hüffart?«
    »Ja, bitte?«
    »Was machen Sie da so allein?«
    »Ich beobachte Vögel.«
    Wie skurril! Da bauen sich die geilsten Eisberge vor dir auf und er hält Ausschau nach so ein paar öden Piepmätzen.
    »Eine Seeschwalbe habe ich schon gesehen. Und eine Graugans.«
    »Aha! Ihre Frau schickt mich. Ich bin Ihr Chauffeur und soll Sie mitnehmen.«
    »Gisela schickt Sie? Warum kommt sie nicht selbst?«
    Mein Gott, war der Alte durch den Wind. Erinnerte sich nur an seine erste Frau, an die Alki-Braut, die sich angeblich nach und nach totgesoffen hatte, aber offiziell an einer heimtückischen, sehr seltenen Stoffwechselerkrankung verstorben ist. Wer’s glaubt … Auf seine neue Gattin, die fette Silvie, kommt der gar nicht, hat er komplett verdrängt, krass, aber auch absolut verständlich.
    »Gisela und Jan warten woanders. Ich bringe Sie hin, wenn Sie möchten!«
    Hüffart kniff kurz die Lider zusammen, aber dann lächelte er wieder, ein Lächeln, wie er es als Parteivorsitzender nie zustande gebracht hatte. »Dann danke ich Ihnen schon mal!«, sagte er und ließ sich ganz geschmeidig zum Auto geleiten, stieg ein, schnallte sich an.
    Frankie konnte es kaum fassen. War das jetzt Glück oder Wahnsinn?
    Egal, es war einfach eine Gelegenheit, die ihm das Schicksal gerade auf dem Silbertablett serviert hatte. Wozu es gut war  – Rache oder Vergebung  –, darauf kam es in diesem Moment doch gar nicht an. Er klemmte die Kabel gegeneinander, ließ die Kupplung kommen, gab Gas, fuhr los.
    »Das Auto stinkt aber«, sagte Hüffart, als sie auf die Ringstraße bogen und gen Osten fuhren.
    [15. Juni, 14.10 Uhr, Heilbrigðisstofnunin, Höfn í Hornafirði,
    Island]
    Die nächste Klinik, die sich eher als sehr überschaubares medizinisches Versorgungszentrum erwies, war achtzig Kilometer entfernt, und während der einstündigen Fahrt im Krankenwagen spürte Wencke, wie das Leben langsam in ihre Glieder zurückkehrte. Der Schreck steckte ihr genau wie die Kälte in allen Knochen, auch wenn es sie mit Stolz erfüllte, aus dieser Scheißsituation an einem Stück und eindeutig lebendig herausgekommen zu sein. Diese Geschichte würde der Overall-Mann wahrscheinlich demnächst in einem Atemzug mit der Angelina-Jolie-Story zum Besten geben.
    Die Sanitäter hatten ihr unterwegs die nassen Klamotten ausgezogen, sie in warme Decken und eine Isolierfolie gewickelt und ihr schließlich einen warmen Tee mit Honig eingeflößt. Als sie in der schmucklosen Kleinstadtklinik in Höfn angekommen waren, fühlte Wencke sich schon wieder so sicher, dass sie den Weg zum Behandlungszimmer auf eigenen Beinen zurücklegen konnte.
    Aber das, was manche Seele nennen, schwamm noch immer im Gletschersee und

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