Götterfall
die Lehne der Holzbank. Keine direkte Berührung, aber ganz kurz davor. »Und du musst zugeben: Es sieht wunderschön aus, oder? Feuer bedeutet nicht nur Gefahr, sondern auch Energie – und Neubeginn.«
Das war Wencke schon fast eine Spur zu esoterisch, doch dann musste sie an die Kosian denken: Mit dem Brand im Haus ihrer Vorgesetzten hatte ja auch alles irgendwie begonnen. Hätte dort in Großburgwedel nicht das Feuer getobt, säße Wencke jetzt nicht mit verbundenen Händen irgendwo in der isländischen Pampa.
»In den nordgermanischen Sagen gibt es den Feuergott Loki, der gleichzeitig als gut und helfend, aber auch als zerstörerisch charakterisiert wird.«
»Ist das nicht derselbe Gott, der für Baldrs Tod verantwortlich war?«
Jarle nickte. »Man sagt, er war allen anderen Göttern an Schönheit, aber auch Klugheit bei Weitem überlegen.«
»Und was passiert mit ihm bei diesem … diesem Ragnarök ?«
»Loki ist zu Beginn des Weltuntergangs als Gefangener der Götter auf einem Felsen gefesselt, doch die Erde bebt und löst seine Ketten. Kaum ist er frei, trommelt er die Toten zusammen, um mit ihnen gemeinsam in die große Schlacht zu ziehen.«
In diesem Augenblick grollte es vom Herðubreið herüber, als würde sich diese Szene gerade dort abspielen. Wencke wusste nicht, ob sie diese Geschichten wirklich mochte. Die Realität war ihr auf jeden Fall lieber. »Also jetzt mal konkret: Kann die Lava heute Nacht das Haus in Brand stecken? Oder erstickt uns vorher die Aschewolke im Schlaf?«
»Du hast eindeutig zu oft mit Katastrophen zu tun.«
Und als sei dies ein Stichwort gewesen, machte Wenckes Handy Alarm und zeigte auf dem Display an, dass ausgerechnet jetzt der Mensch bei ihr anrief, der stets für die schlimmsten Desaster sorgte – zumindest in ihrem Privatleben. »Axel?«
»Wencke!«
Es fühlte sich grundverkehrt an, hier mit Jarle zu sitzen, so kurz vor sehr nah, und dann Axel zu hören, der in zweitausend Kilometern Entfernung aus welchem Grund auch immer zu seinem Telefon gegriffen hatte, um mit ihr zu reden. Das passte nicht zusammen. Sollte sie mit ihren bandagierten Händen versuchen, den roten Knopf zu drücken?
»Deine Mutter hat mir erzählt, dass du einen Unfall hattest!«
»Es ist alles in Ordnung.« Jarle schien zu spüren, dass die Situation Wencke überforderte. Er deutete mit einer Geste an, noch etwas Tee kochen zu wollen, und verschwand netterweise im Inneren seines Hauses.
»Was ist passiert?«, fragte Axel.
»Ich hatte plötzlich Lust auf ein sehr erfrischendes Bad in einem Gletschersee. Und du weißt, wie spontan ich sein kann.« Es ging nicht anders, nur mit Ironie konnte sie sich über dieseSituation hinwegretten. »Meine Mutter, die sich ja für eine Art Telefonzentrale zwischen uns zu halten scheint, hat mir von der glücklichen Niederkunft berichtet. Hast du denn gerade deinen kleinen Sohnemann auf dem Arm?«
»Nein, er schläft.«
»Und seine Mama auch?«
Axel antwortete nicht, sondern schwieg eine bestimmt sündhaft teure Mobiltelefonminute lang, bevor er den Themenwechsel wieder rückgängig machte: »Du steckst mal wieder in Schwierigkeiten, nehme ich an?«
»Es geht um eine alte Geschichte, ist Jahre her, eine frühere Schulfreundin …« Sie hatte keine Lust, Axel alles zu erklären. Zum einen war das nicht mehr sein Problem, sie hatten sich endgültig getrennt und damit basta. Zum anderen hätte es ewig gedauert, ihm von Doro und Jan und Silvie und Götze zu erzählen. In der Zeit hätte er mindestens drei Mal die Windeln wechseln müssen.
»Kann ich dir irgendwie helfen?«, fragte Axel.
»Hast du denn überhaupt Zeit, so als frischgebackener Papa?«
»Ich habe leider mehr Zeit, als mir lieb ist. Es gibt ein paar gesundheitliche Probleme. Wir sind wegen Kerstins Vorbelastung zur Geburt sicherheitshalber in die Medizinische Hochschule Hannover gegangen.«
»Oh, das tut mir leid!« Das stimmte sogar.
»Nichts Gefährliches! Kerstin ist aber noch nicht auf der Höhe, die Anstrengungen der Geburt haben in ihrem Kopf die alte Wunde… Na ja, muss ich ja nicht im Detail erklären, jedenfalls hängen wir hier in Hannover fest, der Kleine schlummert den ganzen Tag und nachts ist es in der Kinderstation zu laut zum Schlafen.«
»Ach, und da rufst du die gute alte Wencke an. Blöderweise bin ich aber zurzeit nicht in der Landeshauptstadt. Du hast dirbestimmt so schön ausgemalt, dass ich sonst vorbeikommen und eurem Baby ein Schlafliedchen vorsingen
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