Götterfall
könnte, bevor wir beide dann im Nebenbett …«
»Mensch, Wencke, hör doch mal auf!«
Er hatte ja recht, es war albern, wie sie sich verhielt. Immer, wenn sie sich verletzt fühlte, wurde sie kindisch. Sie musste sich am Riemen reißen, Axel rief schließlich an, weil er sich Sorgen gemacht hatte, und nicht, um genussvoll in ihren Wunden herumzustochern. Er bot seine Hilfe an, immerhin besser als nichts. »Okay, vielleicht kannst du wirklich etwas für mich tun.«
»Schieß los!«
»Diese alte Geschichte, in der ich gerade drinstecke … Du könntest etwas für mich in Erfahrung bringen.«
»Ich kann aber nicht hier weg, wenn der Kleine aufwacht, muss ich …«
»Du kannst bleiben, wo du bist. Ich brauche nämlich eine Information über eine Patientin, die vor zwanzig Jahren in der MHH von einem Professor Rietberg untersucht wurde.«
»Und das Arztgeheimnis?«
»Es geht um Dorothee Mahlmann, und die ist schon seit einigen Jahren tot. Davor lag sie wegen einer schweren Hirnschädigung lange im Koma. Laut Gutachten hatte sie durch eine Thrombose eine Embolie erlitten, was durchaus plausibel klingt, weil Doro damals schwanger war. Probier mal, ob du diesem Professor Rietberg ein paar alte Akten abschwatzen kannst! Ich kenne nämlich leider nur die erste und dritte Seite dieses Gutachtens und wüsste gern, was dazwischen gestanden hat.«
»Wencke, ich dachte bei meinem Hilfsangebot eigentlich mehr an …«
»Vielleicht bekommst du heraus, ob der Vater aktenkundig war, ob Dorothees Eltern Bescheid wussten und so weiter. Alles, was du in Erfahrung bringen kannst, ist nützlich für mich!«
»Es wird unmöglich sein, einfach so …«
»Du hast doch sicher deinen Dienstausweis dabei, oder?«
»Trotzdem braucht man eine richterliche …«
»Danke für deinen Anruf, Axel, und schlaf schön!« Sie legte auf. Und fühlte sich großartig! Besonders, als Jarle wieder in der Tür stand und statt zwei Teepötten Rotweingläser in den Händen hielt. Er war genau die richtige Erscheinung nach einem Telefonat wie diesem. Und ein sensationelles Trostpflaster nach einem Tag, den man sonst lieber aus dem Gedächtnis gestrichen hätte.
»Meine Veranda steht dir gut«, sagte er. »Du könntest öfter da sitzen.«
Als er die Gläser abstellte, streifte sein Unterarm ihre Schulter. Es wäre genug Platz da gewesen, diese Berührung zu vermeiden. Wencke bekam eine Gänsehaut. »Mir ist etwas kühl, ich hole mir nur mal schnell was zum Überziehen.«
Sie stand auf und ging ins Haus. Die Innenräume waren holzverkleidet und es roch angenehm harzig. Jarle schien ein Faible für skurrilen Nippes zu haben, auf den Regalen standen ulkige Figuren aus Wurzelholz oder Keramik und auf der Fensterbank wurde eine Sammlung geschnitzter Sagengestalten präsentiert. Oder besser gesagt: einer Sagengestalt. Denn egal ob Skulptur oder Bild, immer war ein männlicher Schönling abgebildet, mal mit Fischernetz, mal mit Waffen oder auf einem Felsen liegend. Jarle schien ja ein richtiger Fan von diesem Loki zu sein. Aber wahrscheinlich hatte jeder Isländer einen Lieblingsgott, so wie jeder Deutsche seinen favorisierten Fußballverein.
Das Gästezimmer befand sich im oberen Stockwerk unter der Dachschräge. Es verfügte über ein eigenes Bad und war so ordentlich zurechtgemacht, als habe Jarle ihren Besuch bereits erwartet, es lagen sogar Handtücher auf dem frisch bezogenen Bett. Wencke hätte nichts dagegen, den Rest ihres Islandaufenthaltes hier zu verbringen. Ohnehin hatte sie sich noch keine konkreten Gedanken gemacht, wie es weitergehen sollte. AufLena Jacobi und ihre Reisegruppe hatte sie jedenfalls keine Lust mehr. Dass sie heute bereits drei oder vier Vorträge verpasst hatte, kratzte Wencke nur wenig. Hier war es schön, hier hatte sie Ruhe, hier fühlte sie sich endlich einigermaßen sicher. Ob Karl Hüffart verschwunden war, was der verrückte Frankie auf seiner Flucht so trieb – es war nicht mehr ihre Sache, zumindest heute nicht. Sie hatte mit viel Glück einen Anschlag überlebt und wollte jetzt nur eins: mit Jarle Rotwein trinken und der Sonne beim Nicht-wirklich-Untergehen zuschauen.
Sie stellte ihre Reisetasche auf den kleinen Tisch und versuchte umständlich, mit den verbundenen Händen den Reißverschluss aufzuziehen. Der dicke Pullover, den sie zu Hause extra aus dem Winterklamottenstapel gezogen und für kühle Islandabende eingepackt hatte, war genau das Richtige für diesen Moment und musste ganz unten liegen. Wencke
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