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Götterfall

Götterfall

Titel: Götterfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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gemacht. Und Wencke war deutlich wohler, wenn Jarle bei dieser Begegnung nicht dabei war.
    »Ich kann dich auch mitnehmen. Das Symposium tagt heute am Mývatn , das ist ein sehr schöner See etwa zwei Stunden von hier entfernt. Soweit ich weiß, steht heute auch dein Vortrag auf dem Programm, ein Firmenwagen könnte dich dorthin bringen.«
    Sie seufzte. »Ich könnte mich keine Sekunde konzentrieren. Macht es dir was aus, mich bei den anderen zu entschuldigen?«
    »Kein Problem. Nach dem, was gestern passiert ist, werdendie Kollegen Verständnis haben.« Er klemmte sich eine Tasche unter den Arm. »Mach es dir gemütlich!«
    Wencke zweifelte, dass ihr das gelingen würde. Zwar hatte sich der offizielle Anlass, hier auf Island zu sein, für sie erledigt, denn sie hatte weder Lust, mit irgendwelchen europäischen Würdenträgern über moderne Politik zu diskutieren noch sich von Fremdenführern an überlaufenen Touristenattraktionen etwas über alte Sagen erzählen zu lassen. Es gab nur noch eine Geschichte, die sie interessierte, und das war jene, die Doros Tochter ihr hoffentlich bald erzählen würde. Das hatte mit Gemütlichkeit wahrscheinlich wenig zu tun.
    »Du kannst mich anrufen, wenn etwas ist«, sagte er.
    »Was sollte denn sein?«
    Er schaute sie lange an. »Wencke Tydmers, du bist eine starke Frau. Und deswegen hast du es eigentlich gar nicht nötig, so zu tun, als wärst du auch noch unverwundbar.« Dann küsste er flüchtig ihre Wange und schaffte es doch, dass ihr leicht schwindelig wurde. Das musste aufhören, sofort!
    Nachdem sein Jeep am Seeufer entlanggefahren und schließlich hinter der Bergkuppe verschwunden war, stürzte Wencke sich wieder mit voller Konzentration auf Doros Briefe, die inzwischen auf dem Boden ihres Gästezimmers ausgebreitet lagen. Sie studierte sie sorgfältig und blieb dieses Mal streng mit sich selbst: keine Gefühlsduseleien mehr, kein schlechtes Gewissen oder sonst etwas in der Art.
    Sie war schließlich Fallanalytikerin und kannte die richtigen Methoden, Geschehnisse zu deuten, selbst wenn diese viele Jahre zurücklagen. Die Menschen tickten doch immer noch gleich, sie litten heute auf dieselbe Weise wie im Jahr 1994, sie glaubten, sie zweifelten und sie logen. Und dass viele Empfindungen nicht auf den ersten Blick erkennbar, sondern zwischen den Zeilen verborgen waren, da war Wencke inzwischen sicher. Jetzt wollte sie sich auf die Suche danach machen.
    Viel zu lange hatte sie sich in die Erinnerungen an damals hineingesteigert, schließlich ging es auch um ihre eigene Geschichte. Jans Tod war Wenckes erster Mordfall gewesen und somit ihre erste unmittelbare Erfahrung der Tatsache, dass sich die Welt nun mal nicht immer in Gut und Böse aufteilen ließ und zudem auch nicht zu ändern war. Das hatte sie in den letzten Tagen in ihrer Denkfähigkeit gelähmt, und Doros Schilderungen schienen ihre Synapsen regelrecht zu verkleben. Wo sonst eine Idee die nächste anstieß, manchmal schneller, als es Wencke lieb war, stand seit Tagen alles still.
    Damit musste jetzt Schluss sein. Zurück zur Professionalität!
    Noch während Jarle unten in der Küche mit den Frühstücksvorbereitungen beschäftigt gewesen war, hatte sie losgelegt. Boris Bellhorn war wenig begeistert gewesen, dass sie ihn am Sonntagvormittag aus dem Bett klingelte, hatte sich dann aber doch ziemlich schnell überreden lassen, Wenckes Bitte zu erfüllen. »Und du hast wirklich einen offiziellen Auftrag von der Kosian?«, hatte er dann doch mehrfach nachgefragt. »Wenn ich da einfach so bei dieser Familie Mahlmann auftauche und …« Wencke hatte versichert, dass alles wasserdicht sei, und Boris das Versprechen abgerungen, sich gegen Abend mit einem Ergebnis zu melden.
    Wencke war wild entschlossen, in der Zwischenzeit ein System in diese fünf Briefe hineinzubekommen, irgendwie musste sich das alles doch sinnvoll zusammenfassen lassen. Ihr kam die Cluster -Methode in den Sinn, die Axel damals bei den Ermittlungen in Aurich angewandt hatte. Axel hatte immer gern an Weiterbildungsseminaren teilgenommen und danach mit schicken neudeutschen Begriffen um sich geworfen: » Cluster kommt von Traube, ihr müsst die Informationen umkreisen und dann zu einem gemeinsamen Strang bringen, so wie Weintrauben an einem Zweig …« Blablabla. Fast war es, als stünde er dozierend neben ihr, als sie mit den verschiedenfarbigen Stiften, die sie ausJarles Büro genommen hatte, einige Passagen einkreiste, nach Themen geordnet, ganz so,

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